Ein historischer Moment

Three. Two. One. Zero. Bevor wir an diesem Pfingstmontag zu unserer Radtour aufbrechen, schaue ich mit den Kindern den Raketenstart an. Der Feuerstrahl drückt die Falcon 9 in den Überschall, das Kennedy Space Center verschwindet in einer Rauchwolke, es ist ein historischer Moment. L. fragt, ob die Rakete noch höher fliegt, und ich sage, ja, noch viel, viel höher, und überlege, was genau eigentlich daran so bedeutend sein soll. Dass die Astronauten mit dem Tesla zur Startrampe gefahren werden? Oder dass die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt Launch America überschatten? Der US-Präsident erscheint auf dem Bildschirm, ich klappe den Laptop zu und versuche die Kinder dazu zu bewegen, Schuhe und Jacken anzuziehen und die Wohnung zu verlassen. Was ist eigentlich das Gegenteil von Schallgeschwindigkeit? Dass man lauter und lauter wird und alles dabei zum Stillstand kommt?
Endlich rollen die Räder über die Waldwege. Lesen, ich würde jetzt gerne lesen, der Verantwortung und den Ansprüchen kurz entfliehen – wir gucken Wildschweine an. Die Bachen wühlen mit den Schnauzen die Erde auf, und ich belausche das Gespräch nebenan. „Dreimal hat sie es schon versucht, mit Gepäck und allem, und dreimal musste sie wieder zurück ins Hostel“, sagt eine Frau, deren Tochter auf ihrem Work & Travel-Jahr in Neuseeland offenbar ein Virus in die Quere kam. Eine Pandemie ist doch ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Man kann Wildschweine anschauen, und es ist leichter, die Erdanziehung zu überwinden, als den Kontinent zu wechseln.
Die Kinder haben sich rasch satt gesehen, sie steigen freiwillig in den Anhänger, und nach wenigen Minuten ist es verdächtig still hinter mir. Ich steige ab und schaue mir an, wie sie nebeneinander schlafen. Sie schlafen nicht Hand in Hand, haben aber die Köpfe wie einer unausgesprochenen Abmachung folgend gegeneinander gelehnt. Zuletzt passiert es nur noch selten, dass sie zeitgleich Mittagsschlaf machen, und es scheint mir jedes Mal wie ein historischer Moment. Ich habe vorgesorgt für diesen Moment und schiebe das Rad zur nächsten Bank. Ich habe blindlings eines der angelesenen Bücher in den Rucksack geworfen, suche nach der Seite mit dem Eselsohr, fahre mit dem Finger die Zeilen entlang, three, two, one, zero: Liftoff, we have a liftoff!