Eine Geschichte

2020
Wir in der Fußgängerzone. Meine sechsjährige Tochter und ich. Über unseren Köpfen Lichterketten, in unseren Köpfen Fragen, die ich denke; die sie ausspricht. Wie Weihnachten wird? Ob wir die Uroma sehen können?

1999
Ganz zuletzt zieht meine Großtante ein seltsames Geschenk unter dem Baum hervor. Ich bin dreizehn und frage mich, was das soll? Drei Blätter, eng mit der Hand beschrieben, gelocht und zusammengehalten von einer goldenen Kordel. Meine Großtante glättet das Papier und rückt ihre Lesebrille gerade.

1944
Alle Familien im Haus waren evakuiert. Nur meine Familie war geblieben. Unser Haus war mit Soldaten belegt, da eine Flakeinheit in der Nähe stationiert war. Während der Luftangriffe verbrachten wir viele Stunden im Keller. Wir hatten keine Zutaten, um zu backen. Das hörte ein Soldat, dessen Eltern in der Nähe einen Bauernhof hatten. Er besorgte Mehl, Zucker, Eier und Butter. Wir waren überglücklich und backten mit Hilfe von Mama große Schüsseln voll.

 1999
Mein kleiner Cousin hat einen Zimtstern mit vier Zacken in seiner Kinderhand vergessen. Auch den anderen Plätzchen sieht man an, dass sie von Kindern gebacken wurden. Dem Rentier fehlt der Kopf und der Nikolaus hat seinen Sack verloren. Meine Oma ist auf dem Sofa ganz nah an ihre lesende Schwester gerückt.

 1944
Meine Schwester war 13 Jahre alt und hatte mehrere Verehrer. Hans kam aus Wien. Er spielte Gitarre und wir alle sangen dazu. Mama hatte einen schönen Alt, nur Papa war völlig unbegabt. Es waren noch zwei Tage bis Heilig Abend. Die Sirenen heulten. Ein schwerer Angriff folgte. Als wir aus dem Keller kamen, konnten wir es kaum fassen; unter den Toten war unser Hans aus Wien.

2020
Vor der Einkaufspassage sitzt ein junger Mann. Er trägt eine Maske und einen Handschuh. Der andere Arm fehlt ihm von der Schulter abwärts. Ob es auch Leute gibt, die Weihnachten im Krieg verbringen, will meine Tochter wissen. Wir können dieses Jahr nicht mit der ganzen Familie feiern. Aber vielleicht schenke ich meiner Tochter zu Weihnachten eine Geschichte.

(Ich danke meiner Großtante Maria Iwanicki, der Urheberin des kursiven Textes.)

Ein Beitrag aus der Reihe Alles war perfekt gewesen – Texte zu Weihnachten.