In den schlimmsten Phasen der Einschlafbegleitung

(sie sind zum Glück vorbei) rechnete ich ständig aus, wie viel Lebenszeit mich dieses Ritual kosten würde. Damals lag ich Abend für Abend rund 60 Minuten neben einem Kind. Im Wohnzimmer, das wusste ich, wartete der Laptop mit E-Mails, die beantwortet werden wollten. (Ein Vertrag für eine Lesung. Die Frage von einer Kollegin. Ein berufliches Treffen.) Oder ein Rechercheauftrag. (Sandalen Größe 26. Mineralische Sonnencreme. Länderwoche in der Kita: wer kann etwas beisteuern?) Manchmal wartete sogar ein Buch. (Es war die Rachel-Cusk-Phase.) Aber ich lag auf dem Boden und hielt ein kleines Händchen, jeden Abend eine Stunde, also 365 Stunden im Jahr. Das waren 15 Tage pro Jahr! Wenn das so weiterging, bis das kleinere Kind sechs war (damals war es eins), dann wären das 75 Tage! 75 Tage meines Lebens, in denen ich auf dem Boden liegen und ein kleines, liebes Händchen halten würde! Da ich ein Drittel des Tages schlief, nein, diese Zeiten waren vorbei, sagen wir realistischerweise: ich schlief ein Viertel des Tages –, da ich also ein Viertel des Tages schlief, wären das nicht etwa nur zweieinhalb Monate, sondern (hier wurde die Rechnung kompliziert) sogar etwas über drei Monate. 93 Tage meines Lebens würde ich auf dem Boden liegen, ein kleines, liebes, warmes Händchen halten und Lieder singen! Einschlaflieder. (Guten Abend, gute Nacht. Weißt du, wie viel Sternlein stehen?) Lieder aus meiner Kindheit. (Die Heimat hat sich schön gemacht. Der kleine Trompeter.) Choräle aus meiner Zeit im Unichor. (Wie soll ich dich empfangen? Ehre sei Gott in der Höhe.) 93 Tage, diese Zahl machte mich unglaublich wütend, und ich erinnere mich noch gut an diese Wut. Gleichzeitig denke ich heute: Drei Monate, was ist das schon? Schau dir an, wie groß diese Hände jetzt sind! Und doch glaube ich, dass ich diese Wut nicht wegwischen darf. Dass ich vielmehr einen Raum finden möchte zwischen der damaligen Wut und meiner heutigen Gelassenheit. Dass ich diesen Raum besser kennenlernen möchte für alles, was noch auf mich zukommt.