Take Care: Clemens Böckmann & Sarah Diehl (III)

Liebe Sarah,

als ich letzte Woche deinen Brief zum ersten Mal gelesen habe, hat es mich doch ziemlich umgeworfen. Die letzten sechs Monate gab es bei mir sehr grundlegende Veränderungen und vieles, wovon du schreibst, tanzt geradezu vor meinen Augen.

Die Beziehung zur Mutter von meinem Kind wurde beendet. Wir wohnen nach wie vor sehr nah beieinander und die Aufteilung und Absprachen funktionieren jetzt besser als zuvor. Es ist für uns beide eine Herausforderung, aber die Trennung hat dazu geführt, die Aufteilung der Sorge-Arbeit mit dem Kind klarer zu strukturieren. Dadurch gelingt es gerade besser, die Ebenen zu trennen, und Probleme, die es als Paar gab, können wir mit Abstand und in Abstand zu unserem Alltag klären, besprechen, vertagen, aushalten oder aufarbeiten. Viele Versuche, vorher Sorge-Arbeit so klar zu benennen und aufzuteilen, haben leider nicht geklappt. Erst jetzt, in der Distanz und in der Bestimmung klarer Zuständigkeiten und Grenzen, gelingt es uns viel besser, die unterschiedlichen Ebenen von Konflikten und Aushandlungen zu trennen.

Gleichzeitig hat das neue Jahr mich ziemlich auf den Love-Trip verschickt. Plötzlich sind da wieder Anteile von mir präsent und angesprochen, die so lange keinen Platz hatten. Ich bin an Punkten von mir selbst überrascht – sicherlich hat es auch was damit zu tun, dass das Kind mittlerweile größer geworden ist, vieles selbstständiger kann und andere Sachen einfordert und braucht, dadurch wieder Raum entsteht für mich. Plötzlich gibt es eine Beziehung, in der ich mich ganz anders fallen lassen kann. Denn die Pausen, Empfindlichkeiten, Unsicherheiten und Verletzlichkeiten, die ich hier ausagieren kann, führen nicht direkt dazu, dass die andere Person zusätzlich mehr Sorge-Arbeit für das gemeinsame Kind übernehmen muss. Und ich bin geduldiger, neugieriger, fast dem eigenen Kind ähnlich in der Begegnung einer neuen Person und ihrer Welten.

Gleichzeitig ist eine neue Liebesbeziehung natürlich keine Entscheidung mehr, die ich nur für mich treffe. Umso schöner ist es, wenn mein Kind mir zustimmt, sich freut, wenn wir Übernachtungsbesuch bekommen, und ich erleichtert bin zu sehen, wie die beiden weniger langsam und vorsichtig sich gegenseitig kennenlernen. Es ist dann für mich ein schöner Vertrauensbeweis, wenn mein Kind die Person mehr als akzeptiert, die ich für liebenswert betrachte. Fast schlüpft es in meine Augen und teilt die Freude, wenn sie zu Besuch kommt. Und ich sehe ihr Vergnügen mit ihm zu spielen und das erlebe ich alles andere als parasitär – vielmehr als ein Stück vom Glück.

Und natürlich ist es auch schön, dass Bett mit einer Person zu teilen, ohne dass im Laufe der Nacht ein Kind dazugeklettert kommt. Und natürlich ist es schön, Zärtlichkeiten und Berührungen zu leben nicht als Familie, sondern als Liebespaar. Und ich merke, wie lange es dauert, diese Rolle wieder annehmen zu können. Auf eine Art und Weise erobere ich mir meinen Körper zurück, weil ich ihn mit einer anderen Person teile. Ich kann wieder mehr entscheiden, wo und wann ich was gebe. Dabei ist es für mich natürlich nochmal ganz anders, weil ich weder die Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt noch die des Stillens gemacht habe.

Gleichzeitig genieße ich die Wochen mit Kind jetzt umso mehr. Ich genieße es, mit ihm Zeit alleine zu verbringen, den Fokus und die Aufmerksamkeit nicht teilen zu müssen, für alles zuständig und verantwortlich zu sein und komplett losgelöst unsere gemeinsame Zeit einteilen zu können. Das ist auch befreiend, weil ich weiß, dass ich in der darauffolgenden Woche für mich bin. Du schreibst davon, wie du versuchst, den Umgang mit Menschen zu dosieren – sicherlich ist das eine der größten Schwierigkeiten als Eltern: ein (stiller) Wettstreit um die Bedürfnisse nach Nähe. Und es fühlt sich schmerzhaft an, den Widerspruch zu spüren zwischen dem Wunsch, Nähe zu bieten und gleichzeitig für sich selbst sein zu wollen. Das auszuhalten gelingt sicherlich nicht immer. Wahrscheinlich ist es eine der Sachen, die ich in den letzten Jahren stärker noch gelernt habe, weniger von meinem Kind als in Gesellschaft mit ihm: die eigenen Grenzen und Zustände absoluter Erschöpfung, in denen ich dennoch als Bezugsperson gefordert und gefragt war – und nicht willens, dieses Bedürfnis nicht zu erwidern.

Das ist eine Sache, auf die ich mich nicht habe vorbereiten können vor der Elternschaft. Ich frage mich auch, ob sich das vorher überhaupt antizipieren lässt? Jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, wie meine eigene Elternschaft (bisher) verlief, habe ich vor allem das Gefühl auf Unerwartetes gestoßen zu sein, auf viele Überraschungen – sowohl in mir als auch in den Veränderungen meiner Welt. Das ist dann meistens ein Moment, in dem mir auch meine eigene Naivität auffällt. Und in diesem Fall war es vielleicht auch ein Schutz, also eine Selbstverständlichkeit, ein Selbstbewusstsein, mit dem wir als Paar in die Elternschaft gegangen sind. Und meine Unfähigkeit, mir vorzustellen, dass es eine Erfahrung sein wird, die mich als Ganzes fasst. Kein Punkt, keine Vorstellung und kaum ein Wunsch oder Begehren, das sich nicht zur Elternschaft in Beziehung setzen musste. Wenn ich beim letzten Mal das Bild von der Trip-Begleitung als Eltern-Kind-Beziehung gewählt habe, so scheint sich das im Großen fast umzukehren. Dabei bleibt so vieles eigentlich wie gehabt. Mir machen noch immer dieselben Dinge gute Laune wie vor vier Jahren, ich begeistere mich immer noch für denselben Quatsch und habe noch immer das Gefühl, meine Füße tragen mich ganz selbstverständlich.

Dennoch glaube ich, es gibt bei sehr vielen Leuten die Vorstellung, dass Elternschaft eben genau das bedeutet: eine radikale Veränderung, ein Bruch in ihrem Leben, und sie passen ihre Maßstäbe, Erwartungen und Sichtweisen an diese Vorstellung an. Das kann dann natürlich auch Auswirkungen auf Freundschaftsbeziehungen haben. Ich würde dir dabei aber absolut zustimmen, dass es wohl eher eine sich selbsterfüllende Prophezeiung ist als notwenige Realität. Ich selbst habe mich eigentlich vielmehr gefreut, mein Kind auch innerhalb einer Vielzahl von Freundschaftsbeziehungen zu bekommen. Gleichzeitig musste ich die eine oder andere Angst abwehren, dass eben diese Freundschaften in der Folge enden. Manche Erwartungen meinerseits haben sich dann auch nicht erfüllt, weil die Freund:innen in ähnlichem Chaos leben wie ich und es doch weniger Beziehungen gab, die sich zwischen ihnen und meinem Kind aufgebaut haben. Umso mehr sind in den Freundschaftsbeziehungen Anteile von mir aufgehoben, die sonst vielleicht kaum Platz gefunden hätten. Da gibt es Kontinuitäten, die weit vor die Geburt vom Kind reichen. Wenn du schreibst, dass Leute kinderlos bleiben, aus Angst vor dem Mutter/Eltern/Kleinfamilien-Ideal, das sie dann leben sollten, war das für mich immer ein Punkt, der dagegen gesteuert hat. Die andere Seite der Erfahrung wäre eben jene der Ohnmacht: eingeklemmt zu sein, zwischen (gesellschaftlichen + persönlichen) Erwartungen und den eigenen Fähigkeiten und Kapazitäten.

Was kann man dagegen halten? Ich kann immer wieder nur versuchen, auch oder vor allem im Umgang mit meinem Kind die Anarchie in unseren Leben zu verteidigen. Wir haben in dieser Welt ohnehin schon so wenige Verbündete in diesem Kampf, dass es gut ist, da jemanden an seiner Seite zu haben. Ich glaube, da gibt es immer wieder Punkte, in denen ich mich sehr bereitwillig von meinem Kind sabotieren lasse – sowohl was die Erwartungen als auch was meine Ansichten betrifft. Und wenn ich dabei was von ihm lerne, scheinen das Banalitäten zu sein – wobei ich mich fast schäme, von einem Dreijährigen darauf hingewiesen zu werden: Abwesenheit und Präsenz. Von da aus können alle weiteren Entscheidungen gemeinsam getroffen werden und wir versuchen uns am guten Leben. Dabei war mein Leben schon vor der Geburt etwas chaotisch – da ist es einfacher gewesen, dem Chaos auch danach freie Hand zu lassen –, jetzt aber eben mit der Herausforderung, auf die Bedürfnisse einer weiteren Person dabei zu achten.

Liebe Grüße

Clemens

 

Lieber Clemens,

wie schön du es beschreibst, wie du dich über die Freude deines Kindes an deiner neuen Partnerin freust. Als würden die Augen größer werden, ein Tunnel, durch den ihr beide blickt, ein Sehnerv, ihr beide verbunden in eurer Bedürftigkeit und Vorfreude, Hoffnung. Denn wie du sagst, die Art, wie wir uns mit anderen Menschen teilen, ist ein Aspekt davon, wie wir uns unsere Körper auch zurückerobern. Das geht Müttern bestimmt auch so, sie entdecken sich und ihre Körper neu, als Säugende, Schützende für ein Kind, und als Liebhaberinnen für einen Mann. Diese Projektionen sind vollkommen legitim, vielleicht auch notwendig, um diese Rückkopplungen zu verstehen und anzuerkennen. Und klar ist es ein Klischee, aber natürlich sehe ich meinen Freund auch durch seine Kinder als Heranwachsenden, dieser Struggle und diese Lust im Welterkunden, die er selbst hatte, als Kind und jetzt als Vater. Ich finde das zugegebenermaßen megabegehrenswert.

Die Teilnehmerinnen in meinem Seminar „Will ich Kinder?“ thematisieren das oft: die Liebe zum Partner und die Liebe zum Kind, und wie bedingt sich das … Manchmal erzählen Frauen, sie empfinden es als Zurückweisung, wenn der Partner nicht sagt, er wolle ein Kind mit ihnen, und das sogar, obwohl sie eigentlich selbst ziemlich sicher sind, kinderfrei leben zu wollen. Aber es wurde als so großer Liebesbeweis aufgebauscht – dieses „Ich will ein Kind mit dir!“ –, dass es ihnen fehlt, so als Begehrens-Performance. Dabei ist es oft eben die Familiengründung, die das gegenseitige Begehren sabotiert. Ich weise dann manchmal zärtlich darauf hin, dass ein Partner, der sagt: „Ich möchte eher kein Kind“ eben auch sagt: „Ich will mehr Zeit mit Dir!“ Ich will mich auf uns konzentrieren, will mit dir Sachen unternehmen, denken, fühlen und nicht unsere Zeit und Räume der Liebe auf ein Kind konzentrieren/ablenken. Ich will Zeit und Raum für uns. Damit sage ich nicht, dass es nicht auch ok ist, wenn sich Beziehungen durch ein gemeinsames Kind verändern, und das nicht auch schön und produktiv sein kann. Aber es ist eine wichtige Frage: will man sinnliche Liebe oder familiäre Liebe? Wie gut lässt sich das kombinieren in dieser kackheteronormativen Arbeitswelt mit allem, was da dran hängt und das sabotiert? Mit Kindern kann man diesen durchgetakteten bürgerlichen Konzepten nur schwer entkommen, die eben auch die Liebe mit Hausbau, Kreditaufnahme und heteronormativen Arbeitsteilung zerstören – so ist die Verzahnung von Kleinfamilie und Lohnarbeit in der westlichen Kultur eben angelegt. Ich hoffe, das kommt jetzt nicht allzu verklärend rüber, aber neue Forschungen und Perspektiven wie Die Wahrheit über Eva, FemaleChoice, oder Anfänge von David Graeber, die von patriarchalen Vorurteilen bereinigt werden und offenbaren, wie egalitär Gesellschaften waren, bevor Kapitalismus, Privateigentum und Patriarchat zuschlugen, versöhnen mich echt mit der Welt. Ich kann da echt endlich so richtig aufatmen. Und es zeigt mir nochmal, wie viel Gewalt und Irrsinn in der bürgerlichen Vorstellung von Weiblichkeit steckt, in der ich mich nie zu Hause fühlte. In diese Weiblichkeit wird man als Mutter aber umso mehr gedrängt und ich wäre wahrscheinlich auch so eine Kontrollfreak-Feministin, die nachzählt, wie viele Stunden Sorgearbeit und Mental Load wer leistet. Aber mit diesem (oft berechtigten) Misstrauen möchte ich eine Beziehung nicht belasten, an der ich als sinnlich-kreatives Wesen selbst wachsen will. Ich bilde mir ein, ich kann gut nachvollziehen, warum es – wie du beschreibst – viel einfacher erscheint, als Expaar Sorgearbeit gerecht aufzuteilen, weil man dann eben klar über die Arbeit sprechen kann und nicht mehr als Liebesdienst. Ich würde eher mit Freund:innen Kinder haben wollen, als mit meinem Geliebten. Aber selbst in dieser Konstellation reizt mich der Gedanke wenig, eigene Kinder zu haben. Ich finde es aber interessant, soziale Elternschaft als ähnliche kollektive Form der Kreativität zu betrachten, wie gemeinsam an einem Buch zu arbeiten.

Tatsächlich ist es für mich ähnlich, wenn man in Büchern oder Babys fruchtbar ist und Samen streut, die anderswo aufgehen und wuchern und sich in den (Gedanken)Welten anderer wieder fortpflanzen: Vielleicht ist es deshalb für mich so eindeutig befremdlich, primary caregiver zu sein, weil ich diese Kreativität, die im Leben steckt, als kollektive Sache sehe, und die ist für mich intellektuell genauso wertvoll und Funken sprühend wie körperlich. Und darin steckt auch ein anderer Gedanke: ebenso wie der Meister nicht vom Himmel fällt, so fällt auch nicht die Mutter vom Himmel. Es gibt nicht die eine Autorität, die alle Fäden in der Hand haben (muss). Ebenso wie Elternschaft ist das Schaffen künstlerischer Werke ein kollektiver kreativer Prozess. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Buch zu schreiben. Selbst wenn es eine einzige Autorin gibt, wurde sie von Lektor:innen, Verleger:innen, Rezipient:innen, aber auch von einer Vielzahl von Ideengeber:innen gesäugt.

Aber egal wie sehr man es versucht, die biologistischen Klischees sind hartnäckig und verkleistern jede Vorstellungskraft vieler Menschen: Vor kurzen versuchte ich, auf einer Podiumsdiskussion zum Muttertag darüber zu sprechen, dass es ok ist, wenn einem Erfahrungen „fehlen“ im Sinne von Man macht sie nicht, weil man eben in dieser bodenlosen Schatzkiste an Leben andere macht, aber es stellt eben keinen existenziellen für alle gleichförmigen Mangel dar. Leider ging das nach hinten los, denn in der Presse wurde ich nur verkürzt zitiert: „Frau Diehl gibt ehrlich zu, dass ihr als Kinderlose was fehlt.“ Das nennt man dann heutzutage mangelnde Ambivalenztoleranz. Ich breche mir einen ab, Komplexität herstellen zu wollen und Eltern und Kinderlose nicht gegeneinander auszuspielen, und man wird trotzdem immer nur auf die gleichen Schablonen-Phrasen reduziert. So war das auch mit meinem Artikel in der ZEIT, in dem ich darüber schrieb, warum man Reproduktion nicht an die Frage nach dem Sinn des Lebens koppeln sollte. Der wurde dann mit dem provokanten „Kinder machen keinen Sinn“ betitelt, um Leute hinter die Paywall zu locken, weil die ZEIT neue Abonnent:innen braucht. Den Preis dafür zahle ich mit 400 Hasskommentaren, die nur auf den doofen Titel reagieren und meinen Namen mit einer „wütenden frustrierten Kinderlosen“ verbinden. Tja.

Alles Gute von Sarah