Lach, Medusa!

Ein paar Klicks und ich bin drin. Gewöhnlich sehen meine Wochenenden so aus: aufarbeiten, was in der Woche liegen blieb, Wäsche waschen, Wohnung putzen, Taxifahrten für die Kinder, bei den Hausaufgaben helfen. Für anderes bleibt keine Zeit und Geld. Um Veranstaltungen zu besuchen, müsste ein Ersatz gefunden werden, jemand, der all die Arbeit macht, meine Sorgearbeit ist nicht billig, nur werde ich nicht dafür bezahlt. Ich bin die billigste Arbeitskraft für unseren Haushalt.
Aber das ist heute anders. Auf dem Bildschirm sehe ich ihre kurzgeschorenen Haare, mir gefällt ihr roter Lippenstift. Ich liebe vor allem ihren Text „Das Lachen der Medusa“, darin entfaltet sie das weibliche Schreiben, das die Grenzen von Philosophie, Feminismus und Psychoanalyse vermischt. Hélène Cixous erwähnt Medusa auch heute, genau wie Rimbaud, mir stockt der Atem vor Bewunderung, als sie über Joseph Ignace Guillotin spricht, das unerreichbare Ziel, eines sekundenschnellen Todes und die Frage an Gott: Bist du verrückt geworden und wenn ja, wer muss dann handeln, der Mensch? Ihre Stimme übertönt den Staubsauger, das Geschrei der Kinder, die drei Stunden Online-Seminar vergehen wie im Flug. Einmal erwähnt sie den Begriff „Lenz“ für Frühling, um über seine Einzigartigkeit im sprachphilosophischen Kontext zu reflektieren. Ich schreibe ein Kommentar im Chat und freue mich, über den Austausch mit anderen Teilnehmern. Als sie sich verabschiedet, bin ich mit den Einkäufen fertig, ziehe schnell mein Handy aus der Tasche. Ich sehe noch ihr medusisches Lächeln zum Abschied, und denke, dass, so sehr ich diese Krise hasse, mir wünsche, diese digitalen Formate mögen bleiben. Sie erlauben mir, einen neuen Zugang zu Räumen zu finden, die mir vorher aufgrund von Sorgearbeit verschlossen blieben. Ich will noch viel mehr Lachen, Medusa!

Other Artists: Vanessa Gageos

 
Vanessa Gageos (geb. 1989 in Bukarest, Rumänien) studierte in Bern, Basel und Berlin u. a. Sound Arts, Contemporary Arts Practice sowie Raumstrategien. Sie bezeichnet sich selbst als multi-, inter- und transdisziplinär arbeitende Künstlerin. Ihre Arbeiten operieren in den verschiedensten medialen Kontexten, sie vermitteln audio-visuelle wie haptische ästhetische Erfahrungen und verknüpfen diese mit naturwissenschaftlich oder philosophisch orientierten Fragestellungen und Ansätzen.
Die 2020 entstandene Videoarbeit „conditio creatrix“ ist eine sehr persönliche Arbeit, die Gageos in ihrer Doppelrolle als Künstlerin und Mutter zeigt: Vanessa Gageos konzipiert, schreibt und liest, während sie zeitgleich ihr Kind stillt, beruhigt, unterhält. Sie ist tatsächlich beides während jener Aufnahmen, Mutter und Künstlerin, mal der einen, mal der anderen Sphäre mehr Aufmerksamkeit schenkend, müde, erfüllt, bemüht, hin und wieder ein wenig scheiternd im Einen oder Anderen. – Gageos möchte hier ein Neben- und Miteinander jener zwei oft wettstreitenden und sich wechselseitig torpedierenden Welten verwirklichen, deren gemeinsamer Wesenskern durch das Schöpfende oder Schöpferische wie auch durch konzentrierte Zuwendung gebildet wird.
Wie die meisten anderen Künstlerinnen in gleicher Situation beschäftigt auch Vanessa Gageos die Sorge, wie, einhergehend mit ihrer Mutterschaft, ein Weiterbestehen in voller Akzeptanz im Kunstbetrieb realisiert werden kann. Gleichzeitig forciert sie einen konstruktiven Umgang mit Künstler*innenelternschaft – und bezieht sich hierbei sowohl auf die unmittelbar Beteiligten wie auch auf unbeteiligtere Dritte: Gageos will Elternschaft als Quell einzigartiger und tiefer Erfahrungen wahrgenommen sehen, die u. a. auch das künstlerische Arbeiten prägen und bereichern können.

Eddie the Earthworm

Aber wie habe ich das früher gemacht, 2000 Wörter am Tag zu schreiben, sechs Stunden am Stück auf einen Absatz konzentriert zu bleiben, manchmal auch nur auf einen Satz? Ich weiß gar nicht mehr, ob das der Wahrheit entspricht oder einem Klischee, um mich an ein Leben davor zu erinnern, das ich noch nicht bereit bin, wiederzufinden. Ein Riss im Kosmos und vor allem in meinem Schreiben. Ich weiß nicht mehr, wo ich spreche und ob ich das Recht habe zu sprechen. Mein Universum hat sich auf eine Formel reduziert: funktionieren, aushalten, Gefühle ins Klo ablassen und nicht vergessen, vor dem Händewaschen die Spülung zu drücken. Denn wenn wir uns das große Aufräumen erlauben, werden wir nicht überleben. Mein Wort für den Familienfrieden: Klappe halten, und das mit Freude! Sonst wäre der Erdrutsch nicht nur ein Wortspiel, sondern strukturell. Vor allem ohne Sicherheitsgurte. Die emotionalen Reserven sind aufgebraucht. Als Beweis, am Freitag starb unser Hamster und ich fühlte nichts. Bei den anderen Tieren war ich jedes Mal verzweifelt, ein seelisches Wrack angesichts des Todes. Diesmal nichts, gar nichts, Leere. Meine Töchter heulend, mir fiel zum Trost nichts anderes ein als: „Ja, er ist tot, das ist traurig. Habt ihr schon eure Hausaufgaben gemacht?“

Aus dem Französischen von Barbara Peveling.

wunschliste kinderkriegen. va te faire foutre*

das verstehen: regelmäßig schmerzen
messer im bauch, rote, dicke klumpen,
schmiere wie flüssiger beton,
baumeister des inneren, sehr dunkle spuren
(9 monate tampons sparen, bluten ist luxus!)

organe definieren, die sonst
hängen, im weg sind, peinlich,
(beim sport vor allem!)
auch das: milch produzieren,
den körper in eine maschine
verwandeln, wie von selbst,
etwas schaffen.

einen status erlangen
nicht nur frausein, sondern: mutter
etwas zu sagen haben, im eigenheim.

zuletzt, du, deine augen, dein mund,
in dir menschen sehen, die vergangenen,
gegenwärtigen, zukünftigen, auch
das vor allem, leben.

* Gustave Flaubert, Lettre à Louis Boulhet, 1850; dt: leck mich am Arsch

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Traumsonde

Du wurdest also ein Mädchen später eine Frau
du hast dich nie richtig damit abgefunden
es hatte doch viele Nachteile
du ertrugst die Blutungen, ertrugst die Typen
am Ende baumelte ein Zuckerbrot: ein Baby
das einzige wofür dieser Frauenkörper gut war
ein kleines Kind mit Engelgesicht
läuft Hand in Hand mit dir am Meer entlang
war dieser Traum wirklich dein Traum?
hattest du selbst davon geträumt?
oder hatte man den Traum in dich eindringen lassen?
wie einen Penis oder eine Ultraschall-Sonde?
nein
eher ganz sanft
eine Werbung auf Glanzpapier oder zehn
Sekunden sanfte Unterbrechung mit
Naturgeräuschen während einer Meditation
auf YouTube zehn Sekunden freier Verfügung
über dein Gehirn und dein Körper
zum Spekulationsfonds modelliert

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Wenigstens keine Angst

Nein, ein Kind habe ich mir nicht gewünscht. Es konnte mir auch niemand schlüssig erklären, weshalb ich Vater werden sollte. Weder die beiden Freunde, deren Kinderwunsch ausgeprägter war als derjenige ihrer Partnerinnen – das eine Paar einigte sich schließlich auf ein Kind (inzwischen haben sie zwei), das andere trennte sich – noch mein Vater, der hartnäckig auf Enkelkinder pochte, obwohl ich mit dem Studium noch nicht fertig und Single war. Ich las keine Bücher über Elternschaft. Ich ging selten und nie aus eigener Initiative zu Diskussionsrunden über Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich hatte es nicht besonders eilig und fand es auch nicht so schlimm, als es mit dem Kind nicht sofort klappte. Wenigstens hatte ich keine Angst: Das wird schon, irgendwie. Gegen ein zweites Kind hätte ich nichts einzuwenden. Warum, weiß ich auch nicht.

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Kinder & keine Kinder

Es gibt rationale Argumente dafür, keine Kinder zu haben.
Es gibt kaum rationale Argumente dafür, Kinder zu haben.
Ich habe sie trotzdem, die Kinder.
„Warum?“, fragte mich K. gestern, „warum Kinder?“
Ich: …
K: Hast du es je bereut?
Ich: …
K: Würdest du es dir mit dem Wissen von heute wieder wünschen, Kinder zu haben?
Ich: Wenn ich meine beiden betrachte, als ganz spezifische Menschen, dann denke ich schon, ja, dann würde ich mir genau sie wieder wünschen.
K: Glaubst du, deine Kinder hätten sich selbst dafür entschieden, in diese Welt hinein geboren zu werden?
Ich: Frag‘ sie in fünfundzwanzig Jahren und in fünfzig nochmals.
K: Lebst du gern in dieser Welt?
Ich: Ich lebe gern. In dieser Welt? Schwer zu sagen.
K: Glaubst du, deine Kinder werden selbst mal Kinder haben?
Ich: Mein Fünfjähriger sagte letztens, er wolle keine Kinder. Ich fand das eindrücklich. Und verstehe es auch. Irgendwie.
K: Hast du ihn nach dem Warum gefragt?
Ich: Hätte ich das tun sollen?

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Ausgewandert

Wir sind ausgewandert.
Ich würde nicht sagen überstürzt oder über Nacht.
Ich würde nicht sagen: Nacht und Nebel. Wir waren vorbereitet, verdammt.
Monatelang, was sage ich, jahrelang diese Reiseberichte.
Wir kannten jede Doku, jeden Bildband, jede Klimatabelle.
Und ich streite ja auch nicht ab, dass wir es schön haben hier.
Ich meine: Das Haus. Ich meine: Den Garten. Ich meine: Wir – Direkt am Meer.
Wer träumt nicht davon? Haben wir geträumt? Aber hallo!
Klar, bisschen viel Sand manchmal. Sand auf dem Teller, Sand im Bett und manchmal ist der Sand so heiß, dass man nicht mal drauf laufen kann.
Aber hey – wir leben den Traum. Und der Traum ist nicht schlecht, das heißt,
wenn wir zum Schlafen kommen zwischen Salz und Sand, ist der Traum nicht schlecht.
Außerdem schmeckt uns der Kaffee besser mit weniger Schlaf.
Oder: Wegen Blick aufs Meer.
Wir sind ausgewandert ins Land unseres Kindes.
Ich meine: Das Land, das unser Kind ist.
Haben wir Heimweh? Nach uns selbst? Wir doch nicht. Gar keine Frage.

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Doch warum nur gebären wir Kinder …

… warum nähren wir Kinder, wenn wir sie hernach, des Lebens willen, trösten müssen?
Giacomo Leopardi: Canti

In der ersten Woche merke ich nichts. In der zweiten auch nicht. In der vierten Woche glaube ich, dass ich glaube, dass was ist. Ich weiß nicht, was ein Wunsch ist, weil mir Leben so gefällt.
Ab der 18. Woche steigen Bilder empor. Mir wird Zukunft präsentiert, wie sie sein könnte, sollte, müsste. Auf keinem der Bilder kann ich mich erkennen. Ich bekomme keine Kinder, trage Sorge allenfalls.
Zwischen der 23. und 28. Woche denke ich, irgendwann wird sich ein Bild einstellen. Ich entwerfe mich als Gegenentwurf.
In der 30. Woche stelle ich mir vor, wie was wäre, wenn es wäre. Und ich kann nur eines wissen – dass ich nichts weiß. Also frage ich irgendwen und ende doch damit dann bald.
In der 32. Woche lass ich alles liegen und schaue fern. Erinnerung gräbt. Ich treffe Andere, die heißen wie ich. Ich war, ich bin, ich werde.
In der 55. Woche weiß ich so viel wie am Anfang. Kann ich mir etwas wünschen, wovon ich nichts weiß? Ist wünschen immer auf jemand anderen bezogen? Wünschen fängt beim Sprechen an?
In der 83. Woche denke ich mir, dass alles ganz schön kompliziert ist. Wo soll das bloß hinführen? Genau hierher. Und ganz woandershin.

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