In einer Zeit …

… in der es zu Hause viel Streit gab und ich oft und heftig auf Trigger reagierte, riet mir eine Freundin: Verhalte dich so, dass du hinterher stolz auf dich sein kannst.
Ich habe es damals häufig nicht geschafft, doch es scheint mir immer noch ein guter Rat, in vielen Lebenslagen. Wenn man sich später umdreht und zurückschaut, was für einen Menschen möchte man da sehen?
Und wenn die eigenen Kinder zurückschauen, was sollen sie da über ihre Eltern sagen? Was sollen sie über mich sagen? Ich kann es mir nicht aussuchen, aber ich habe einen Einfluss darauf. Sollen sie sagen: Wenn Selim gearbeitet hat, dann durfte man ihn nicht stören?
Die Geschichten darüber sind zahlreich. Das Arbeitszimmer ist tabu. Und wenn es kein Arbeitszimmer gibt, darf man nur leise spielen, wenn Mama oder Papa gerade am Schreibtisch sitzen. Bei vielen dieser Geschichten habe ich das Gefühl, dass man das Kind oder die Kinder gut für die eigenen Konzentrationsstörungen verantwortlich machen kann.
Doch wenn man Kinder hat, ist man selber verantwortlich, für alles. Das mag anstrengend und ermüdend sein, aber man wenn man Kindern Raum geben möchte, kommt man um die eigene Verantwortung nicht herum.
Das hilft mir, wenn eines der Kinder an den Schreibtisch kommt und etwas will, obwohl es genau weiß, dass ich gerade arbeite und lieber nicht gestört werden möchte. Es kommt vor, dass ich gereizt reagiere, unwirsch, unwillig, aber viel häufiger nehme ich mir einfach drei, vier oder auch zehn, fünfzehn Minuten Zeit.
Kein Text ist so wichtig wie das Bedürfnis des eigenen Kindes. Es mag vielleicht sein, dass mir irgendwann mal ein Leser mehr Bewunderung entgegenbringen wird als meine Kinder. Oder mehr Dankbarkeit. Obwohl ich das für unwahrscheinlich halte. Aber ich werde nie mit einem Leser eine so verbindliche und intime Beziehung haben.
Wir sind häufig dazu geneigt, den Menschen, mit denen wir zusammenzuleben, viel zuzumuten, egal wie alt sie sind. Und mit Fremden vorsichtiger zu sein. Das mag eine Binsenweisheit sein, aber mir hilft sie, mich im Alltag besser zu orientieren.
So mag es ab und an so aussehen, als würde die Kinder meine Konzentration stören, aber in Wirklichkeit zwingen sie mich nur, meine Energie und meine Konzentration in die richtige Richtung zu lenken.

Das Loch

Das Kind der schreibenden Mutter hat ein Loch im Socken. Es ist ihm nicht angenehm, dass der nackte Zeh mit dem Inneren seines Gummistiefels in Berührung kommt. Beim Spielen im Wald vergisst das Kind das Loch und die Mutter, die heute Morgen beim Frühstück wieder so ein komisches Gesicht gemacht hat. Das Kind kennt sich aus mit den Launen dieser Frau (sie ist die einzige Frau in ihrer vierköpfigen Runde). Ihre Launen haben mit etwas Schrecklichem zu tun, das sie ihren Text nennt. Gegen das strikte Verbot besucht das Kind sie manchmal in ihrem Zimmer. Es öffnet die Tür einen Spalt und sieht das Feuer im Ofen. Die Mutter sitzt in eine Decke gehüllt an ihrem Schreibtisch (ihr Zuhause ist ein Eispalast). Lächelt die Mutter in Richtung Tür, hüpft das Kind schnell auf den Sessel am Feuer. „Aber du musst mich arbeiten lassen!“, sagt sie und starrt auf ihren Zettel. Das Kind merkt, dass sie sich viel mehr für das Kind interessiert als für den Bleistift, mit dem sie ja doch nichts anzufangen weiß. Also erzählt ihr das Kind von seinen neuesten Plänen, gefährliche Verfolger auszuschalten (Säbelzahntiger etc.). Sie unterhält sich mit ihm von ihrem Stuhl aus. Aber dann ist sie plötzlich sauer. „Jetzt musst du aber raus, sonst schaffe ich heute gar nichts mehr.“ Und wie sie ihm nachschaut, dass sie wie eine Gefangene aussieht mit dieser Arbeit, die ihr gar nicht gefällt. Wenn das Kind wüsste, mit was für Dinosauriern seine Mutter kämpft. Wie schlau die sind und wie gemein. Manchmal ruft jemand an, den sie den Lektor nennt. Vor dem Anruf rennt sie hin und her. Nach dem Gespräch weint sie meistens. Dann streicht das Kind ihr übers Haar. „Und eine schlechte Mutter bin ich auch“, sagt sie. „Du hast ja schon wieder ein Loch im Socken.“ Das Kind wackelt mit dem nackten Zeh. Es fragt: „Wenn eine Anakonda mit einer Speikobra kämpft? Wer von beiden gewinnt dann, Mama?“