Sätze

Der Schwangerschaftstest sagt positiv.
Mein Partner sagt, wir haben alle Möglichkeiten.
Der Frauenarzt sagt, gratuliere Ihnen zur Schwangerschaft.
Der Frauenarzt sagt, er kann mich nicht über Abtreibung aufklären. Er sagt, wenn ich beim Klettern ins Seil falle, habe ich vielleicht Glück und verliere das Kind.
Sie sagen, ein Kind ist das größte Glück.
Sie sagen, dein Leben ist jetzt vorbei.
Sie sagen, jetzt seid ihr eine Familie.
Meine Hebamme sagt, erzähle lieber nicht, dass du eine Hausgeburt machst.
Sie sagen, mutig.
Sie sagen, sie würden sich das ja nicht trauen.
Sie sagen, es kann so viel passieren.
Sie fragen, Mädchen oder Junge?
Sie sagen, Hauptsache gesund.
Sie sagen, wenn du ein Kind hast, arbeitest du weniger, aber effizienter.
Sie sagen, wenn du ein Kind hast, willst du nicht mehr arbeiten.
Wir sagen, 50:50.
Sie nicken, wissend.
Sie sagen, das geht nur, weil ihr beide selbständig seid.
Meine Mutter sagt, ein Kind gehört zu seiner Mutter.
Sie fragen, schläft dein Baby schon durch?
Sie sagen, schlafe, wenn dein Baby schläft.
Sie sagen, verwöhne dein Kind nicht.
Sie sagen, lass dein Kind nicht weinen.
Sie sagen zu meinem weinenden Baby im Kinderwagen, ist dir kalt? Bist du hungrig?
Sie sagen, im Kindergarten gehört weinen dazu.
Sie sagen, oft ist die Mutter das Problem, weil sie nicht loslassen kann.
Mein Kind sagt, ich bin ein großes Kind.
Mein Kind sagt, ich bin Astronautin. Mein Kind sagt, ich bin Herr Bulle.
Sie sagen, Buben sind so.
Sie sagen, ein liebes Mädchen.
Mein Körper sagt, er braucht eine Pause.
Ich sage, später.
Ich sage, es geht sich alles aus. Irgendwie.

Lieber Du

Was mir durch dich klar geworden ist:

Gewalt ist keine Lösung
Kraft auch nicht immer
Mut und Kraft sind nicht gleich

Man braucht im Leben nicht unbedingt eine Axt und ein Militärbett mitten in der Küche.
Man braucht auch nicht unbedingt
Detox Patches für Füße,
eine Enzyklopädie der aquatischen Blumen,
mehrere Sammlungen von schweren schönen Steinen in ehemaligen Keksdosen,
ein Optiklabor – auch in Keksdosen,
Gewebeproben – ebenfalls in Keksdosen.
Nicht unbedingt.

Man braucht auch keinen Krieg

Für Super 8 Filme könnte ich mich überreden lassen.
Sogar die Flinte könnte ich behalten wollen.
Ich bin eben deine Tochter.
Sogar eine Keksdose voll Steine.

Aber keine Axt, keine Gewalt

Gewalt tut auch dem Täter weh
Täter sind häufig überzeugt, Opfer zu sein
Und Opfer, Täter

Man darf spüren
Spüren verlangt Kraft

Wenn man Witze macht, ist es gut zu checken, ob man nicht alleine lacht
Ich vermisse deine unbeugsame Fantasie.

Und außerdem: Emma Bovary ist nicht böse, sie ist nur nicht in ihren Ehemann verliebt.
Und das darf sie.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung

Lieber Vater

aber so nenne ich dich ja nie, ich nenne dich allerhöchstens einmal im Jahr Papa; um dich zu ärgern, nenne ich dich Vati oder auch Vatti. Papi habe ich nie gesagt, Dad nicht, Daddy nicht, Baba nicht, Paps erst recht nicht. Inzwischen nenne ich dich, wiederum
um dich zu ärgern, oder eher zu necken, denn da stimmt ja das
Sprichwort: Opi. Oder an kalten Winternächten, wenn du auf dem Sofa liegst, dann nenne ich dich Väterchen. Da springst du dann auf und fragst mich bohrend, was ich denn heute schon geleistet hätte? Eigentlich nenne ich dich immer beim Namen. Ich habe keinen Vater, ich habe einen Thomas, einen Bernd, einen Frank, einen Christian, einen Albrecht, einen Franz, einen Clemens. Oder wie du eben heißt. Das wären zumindest schon mal die wahrscheinlichen Namen der Väter von einem wie mir. Cher Père, könnte ich auch sagen. Why not? Zehn Jahre lang hast du versucht, französisch zu lernen, dann zehn Jahre lang englisch. Sprechen tust du beides nach wie vor nicht. Aber kennen tust du die Sprachen. Manchmal nenne ich dich auch: Alter! und klapse dir dabei kollegial auf die Schulter. „Ich hatte keinen richtigen Vater“, sagst du, „und deshalb hast du auch keinen richtigen Vater, aber immerhin hast du mich.“ Cher père, von einem Heiligen hast du deinen Namen und bist deshalb noch lange kein Heiliger geworden. Wenn du auf dem Sofa liegst, sehe ich mich, und die Angst vor der Zukunft löst sich in Luft auf.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung

Brief an meinen Vater

Papa,
Ein Amboss stößt auf den Meeresgrund, irgendwo im Pazifik. Erinnerst du dich? Es war eine deiner Geschichten, die du lachend erzähltest. Du schwarzer Adler, der tief im Herzen die Farben der Indianer trug, die Flaggen eines fernen Amerikas, du gabst mir eine Fluchtmöglichkeit aus diesem Leben. Du magst es wissen oder nicht, aber immer habe ich versucht, es dir gleich zu tun, denn wir beide teilten, was die Feen in ihren Höhlen verstecken: die Fantasie. Mit dem Kinderherzen, das du dir bewahrtest, hast du mir eine Reise durch die Jahrzehnte spendiert. Wir beide auf dem Sofa vor einem von dir ausgesuchten Western, mit von dir zubereitetem Wildlachs und ein paar Fritten. Ich war magersüchtig, aber du fandest Wege, mich mitzunehmen, woanders hin, ohne Worte, ohne es auszusprechen, ins Land deiner freien Erfindung. Eines Samstagnachmittags.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Übersetzung: Till Roeskens. Französisches Original

Auch gestern war einer, wo ich noch nicht war, was ich bereits sein sollte

Ich war kein Boxer, geworden, und auch kein Flieger, wenn auch nur ein Stück, mal mehr mal weniger, auf Sätzen, über Ränder. Ich war ein Schüler geworden und war kein Schüler geworden. Hatte Lernen begonnen und verlassen. Immer und immer wieder abgestoßen, nicht das Wissen, aber die Aneignung. Ich war eine Schildkröte gewesen und ein Hase, ich war ein splitternder Bruch im Knochen eines Unterarms. Ich hatte Zähne verloren und mir waren unterwegs riesige Löffel begegnet. Ich hatte abends eine eingepackte Spritze gesehen und war eine Spritze gewesen, die die kurz betäubte Haut durchstach. Ich war ein Stück Kuchen auf dem Mittagstisch. Ich war da um durchschnitten zu werden. Ich war da, weil ich werden sollte.
Erst viel später, als ich schon längst nicht mehr in diesem, endlosen Haus wohnte, sah ich, was mir zuvor unmöglich schien: auch dir sind Dinge widerfahren. Du hast das Laufen nicht verlernt, gewiss nicht, nicht das Zählen. Was mein erwachsen war, hat dich überhaupt erst werden lassen.
Ich bleibe dabei: Kind wird man stetig.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung

Lieber Papa

wenn ich an Dich denke, spüre ich noch das kleine Mädchen in mir. Ich sehe sie an den Orten meiner Kindheit, wie sie hier und da steht und sich nach deiner Nähe sehnt.

Ein Mann von wenigen Worten. Zahlen und Zitate, Fakten, Wortspiele.

Stark. Undurchdringlich. Stabil. Fleißig. Leistungsorientiert. Schulischer Erfolg. Begabung. Elite. Diplome. Institution. Fähigkeitsteste. Elefantengedächtnis.

Kaum in deinem Leben hast du dich vor Kummer gekrümmt.

Nicht einmal wenn die, da oben, die sich in Ambrosia wälzen, dir deine Frau aus heiterem Himmel weggenommen haben.
Unsere Maman.
Doch hast du dein Bestens getan, um uns vor dem Schmerz zu schützen.
Du hast eine neue Frau geliebt und geheiratet.

Nicht einmal wenn deine Blutplättchen plötzlich abgehaut sind, als du mit blauen Flecken im Krankenhaus lagst und sie dein Knochenmark durchstochen.

Pa. Pa. Zweimal wärst du fast gestorben.

Du bist sofort wieder aufgestanden.
Einfach mit einer Glatze zur Arbeit zurückgegangen und geschuftet, als wäre nichts geschehen.

In der Ewigkeit werden wir viel Zeit zum Ausruhen haben, sagst du oft.

Elefantengedächtnis.
Deine Gefühle werden irgendwo, ganz weit unten, im tiefsten Dunkeln gelagert – oder eben zerquetscht.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung

Brief an meinen Vater

Abend in einem Karton voller alter Kassetten
Kilometer von abgewickeltem Tonband
Störgeräusch und Märchen, habe ich deine Stimme gehört
Zufällig aus einer Aufnahme auftauchend.

Ich habe dich nicht erkannt.

Du hattest mir nicht gesagt dass du einen Akzent hast
wenn du sprachst, machte es dir Schwierigkeiten
den Unterschied zwischen den Lauten é und è und dass deine Stimme zögerte
im Moment als du die bedeckten Wörter des Französischen aussprachest.

Ich habe dich sofort erkannt.

Du hattest mir von den metallisierten Flügeldecken der Käfer erzählt
an den Rändern versunkener Pfade, den Fußabdrücke von Meerjungfrauen
ertrunken in Flusstiefen. Du hast mich nicht gewarnt
dass du mir als Geschenk die Last deiner Fremdheit hinterlassen würdest.

Ich war wütend auf dich.

Aber heute Abend, in den Lücken der Leerräume, die die é und è deiner Aufnahme lassen
habe ich die Unendlichkeit berührt. Meine Stimme, wie deine,
vibriert vor Ungewissheit, wenn ich Worte spreche, die mit Fremdheit bedeckt sind,
in denen sich dann unweigerlich die Laute ö und ä unsicher vermischen.

Habe ich mich selbst erkannt.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Übersetzung: Barbara Peveling. Französisches Original

Lieber Vater

Lieber Vater,
du, der sagt, noch nie ein Buch gelesen zu haben, hast mir die Freiheit mit den Gutenachtgeschichten eingeträufelt. Wachse größer, mache Abitur, sei kein abhängiger Arbeiter wie ich. Jedes Buch, das ich las, jeder Text, den ich aus dem Lateinischen übersetzte, dehnte das Unverständnis zwischen uns. Ich streckte mich hinaus in eine andere Welt, ließ dich in deiner zurück. Die Freiheit für mich hattest du dir in Blazer gekleidet und mit Machtsymbolen ausgestattet vorgestellt, nicht wie ich jetzt lebe. Ich verstumme beim Besuch, du gibst den Ton an, so ist es in deinem Haus, meine Gedanken klingen nicht in der zurückgelassenen Welt, nur in meiner, in die ich nach ein paar Tagen aufbrechen muss, weil wir keine gemeinsame Sprache finden, weil das Unverständnis zu groß ist, ich mich nicht in dein Frauenbild füge. Das zwischen dir und mir geknüpfte Band ist angespannt, droht zu zerreißen, wenn wir beisammen sind, und doch gibt es darin einen Herzfaden, der alles aushält, unzertrennbar. Du sagst, dass du vorne in meinem Buch gelesen hast und in der Mitte, und dass es schon was hermache. Ich fühle Dankbarkeit, dass du meinen Wildwuchs, auch wenn er dir fremd ist, immer unterstützt hast.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung

An jenem Abend

Ich bin fünf oder sechs
es ist Abend und mir ist kalt
man hat mich zum Duschen geschickt
dein Vater kommt gleich
man, das ist Jocelyne
Jocelyne ist die Nachbarin
sie hat mich von der Schule abgeholt
sie hat mir den Platz auf dem Sofa zugewiesen
mit dem Hund mir zu Füßen
enge Überwachung
dann hat sie gesagt geh duschen
dein Vater kommt gleich.

Ich ziehe langsam den Schlafanzug an
langsam
die Ohren Richtung Tür gespitzt
es klopft
endlich bist du da, mein Riese
ja!
meine Stimme überschlägt sich
mein Gesicht bekommt Risse
dein breiter Daumen wischt meine Wangen ab
mit einer Hand hältst du mich aufrecht
während ich auf die Knie fallen möchte
nimmst du mich heim mir dir?
Papa nimmst du mich heim?
Papa
schlaf gut mein Kätzchen.

Erinnerst du dich Papa?
erinnerst du dich an jene Abende?
du gingst heim
allein
jedes Mal
verließt mich jedes Mal
mit nackten Füßen auf den kalten Fliesen
klebrig und feucht
zitternd im Schlafanzug.

Was blieb mir anderes übrig
einleuchtende
vorübergehende
Lösung
Mama am Krankenbett von
ich allein zu Haus
ging früh raus
kam spät zurück
wie hätte ich glauben
wie hätte ich wissen können?

Du hättest nur hinschauen müssen, Papa
nur hinschauen.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Übersetzung: Till Roeskens. Französisches Original

Brief über keinen Vater

Die Abwesenheit eines Vaters ist offensichtlich.

Die Anwesenheit der Abwesenheit eines Vaters ist offensichtlich groß.

Die Anwesenheit der Abwesenheit eines Vaters ist offensichtlich groß in einem Leben.

Die Anwesenheit der Abwesenheit meines Vaters ist offensichtlich groß in meinem Leben.

Die Abwesenheit meines Vaters ist.

Bereits kurz nach dem Beginn meiner Existenz war ich aus dem Einflussbereich seines Gewissens verschwunden. Seine Person als Vater hat mir den Stempel der Abwesenheit aufgedrückt. Er, ich, abwesend im jeweils anderen Leben. Meinerseits trug es zur eigenen Abwesenheit bei, seinerseits kann ich es nicht sagen. Ihm schien meine Anwesenheit nie zu fehlen oder etwas zu einer von ihm empfundenen Abwesenheit beizutragen.

Das meine Abwesenheit seine Abwesenheit nicht beeinflusst, ist wohl die reinste und schönste Form der Abwesenheit.

Keine Tochter

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung