Sounds Different: Und was macht die Musik?

Oh la barbe!!, wie man bei mir in Frankreich sagen würde. Wieder einmal um die Zukunft zittern, um unsere Gesundheit oder die unserer Kinder … Wieder einmal überlegen, welchen Sinn es hat, weiterhin eine brotlose Kunst zu praktizieren, in einer Welt, in der Kultur nicht als Grundbedürfnis eingestuft wird, sondern als „systemirrelevant“ … Gerade jetzt, wo wir von einer rasanten Pandemiewelle heimgesucht werden und wir uns erneut von beruflicher Unsicherheit oder einer weiteren Verlangsamung unserer Aktivitäten bedroht fühlen, mag es lächerlich erscheinen, über unser Eltern- und Künstler:innendasein und alle damit verbundenen gesellschaftlichen und beruflichen Fragen nachzudenken. Und doch …
Nie schien es wichtiger, den zwiespältigen Platz, den unsere Gesellschaft der Familie einräumt, zu hinterfragen als in diesen Zeiten der Pandemie. Eine Familie zu gründen gleicht heute dem Leistungssport, so wenig offen ist die Arbeitswelt, so wenig auf die zeitlichen Bedürfnisse von Eltern und Kindern zugeschnitten. Ganz zu schweigen von unseren künstlerischen Berufen, in denen es ein Balanceakt ist, Kreativität, Karriere und Kindererziehung in Einklang zu bringen.
Die Auswirkungen der Gesundheitsmaßnahmen auf Eltern und Kinder waren und sind noch enorm, sowohl in beruflicher als auch in wirtschaftlicher, psychischer und erzieherischer Hinsicht. Größtenteils weil die kreativen Berufe mehr denn je von Prekarität bedroht sind und eine absolute Notsituation sie nur noch mehr schwächen konnte. Aber wenn man der Gesundheitskrise, die wir seit zwei Jahren durchmachen, einen Vorteil abgewinnen kann, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass wir uns heute gezwungen sehen, nach Lösungen zu suchen, um unser Leben als Künstler:innen und Eltern zu verbessern.
Und die gute Nachricht ist, dass sich die Dinge ändern. Langsam, aber sicher. Musikerinnen und Musiker aus allen Bereichen nehmen die Dinge selbst in die Hand. Sie laden das Thema Elternschaft in ihre Werke ein. Sie fordern mehr Raum und Aufmerksamkeit für ihre Kinder. Wir werden ihnen hier regelmäßig in dieser Kolumne begegnen und sie über ihr Leben, ihre Visionen, ihre Schwierigkeiten und ihre Lösungen sprechen lassen.
Wir sehen uns hier im Dezember für einen ersten Einblick in die zeitgenössische Musik- und Elternrealität. Bleibt gesund!

Same Work But Different: Lisa Kreißler

Welchen Einfluss hatte deine Mutterschaft auf dein Buch?
Seit der Geburt meines ersten Kindes hat sich mein Blick auf Leben und Schreiben stark erweitert. Ich befrage die Wirklichkeit jetzt immer aus zwei Perspektiven: aus meiner und aus der des Neulings in der Welt. Wie spricht man mit einem Dreijährigen über den Tod? Was lehrt er mich über die Natur? Ist es möglich, sich den Blick des Kindes zurückzuerobern? Und: Was sehe ich dann? Wie bringe ich es in Sprache? All diese Fragen waren beim Schreiben von „Schreie & Flüstern“ immer in der Nähe.

Was hast du gerade gemacht, als das Paket mit den Belegen eintraf?
Ich war mit den Kindern an einem Flussbett. Es war warm. Sie spielten mit dem Wasser. Es war einer der seltenen Tage, an denen sie mich nicht brauchten. Ich habe japanische Erzählungen gelesen, mich über die Harmonie und die schönen Sätze gefreut. Als wir nach Hause kamen, stand ein großes Paket im Flur. Ich wusste sofort, was darin war. „Schreie & Flüstern“ ist meinem ältesten Sohn gewidmet. Das hatte ich ihm schon erzählt. Gemeinsam packten wir ein Buch aus. „Ist das mein Buch?“, fragte er. Ich nickte. Und als er seinen Namen vorn im Buch selbst las und dabei kurz innehielt, nahm der Text für mich eine neue Gestalt an. Das Buch war da.

Welches Stipendium würdest du auch mit Kind nicht ablehnen?
Ich träume davon, mit den Kindern und meinem Freund für eine längere Zeit ins Ausland zu gehen, in die Villa Massimo nach Rom zum Beispiel. Dort gibt es eine deutsche Schule. Mein Freund würde in einer italienischen Bäckerei arbeiten und ich würde mich in die Stadt vertiefen, mich durchschütteln lassen von den neuen Erfahrungen. Meinem Schreiben tut es gut, wenn das Leben mich durcheinanderbringt.

Welche*n other writer würdest du gern zufällig auf einem Spielplatz treffen und worüber würdest du mit ihm*ihr sprechen?
Ich würde gern Sibylla Vričić Hausmann treffen! Wir haben uns vor ein paar Jahren am LCB kennengelernt. Später habe ich dann ihre Gedichte gelesen, die einfach toll sind. Am LCB hat Sibylla mir von einem Roman erzählt, an dem sie schreibt. Ich würde sie gern ausquetschen, wie weit sie damit ist, wann ich ihn endlich lesen kann. Und ich würde sie fragen, ob sie einen guten Ratschlag für mich hat, wie man mit dem Gedichte schreiben anfängt.

Lisa Kreißlers Roman Schreie & Flüstern erschien im September 2021 im mairisch Verlag.

Ein abgeschminktes Gesicht zu sehen stimmt mich traurig …

Ein abgeschminktes Gesicht zu sehen stimmt mich traurig
Ich denke dann an Baumrinde oder Sandalöl
An dünne blasse Bambusstäbchen
Spüre die Füße in den Boden Wurzeln schlagen
Es macht mich unruhig dass keiner mich um die Erlaubnis fragte
Ob ich hinausgezogen werden wollte
Man sagte mir ich kam zu früh zur Welt
Ich weiß nicht ob es stimmt und wer mich dazu zwang
Ob ich am Täter Rache nehmen sollte
Selbst die Kakteensammlung auf der Fensterbank
Zeigt mehr Temperament

Das Gedicht stammt aus dem Band wir tauschen ansichten und ängste wie weiche warme tiere aus, erschienen bei Hochroth München, Herbst 2021.

Rarely Asked Questions: Fabienne Imlinger

Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Fabienne Imlinger: Die Autorin und Buchhändlerin A N Denvers sagte einmal: „Moms are not a niche – they literally make ALL THE PEOPLE.“ Insofern finde ich die Kategorisierung von Elternschaft als Nischenthema – das jetzt irgendwie entdeckt wird – erstaunlich. Literatur hat sich doch immer schon mit dem Thema Elternschaft auseinandergesetzt und mit den spezifischen Konflikten, die darin liegen. Worum geht es denn, um jetzt mal ganz weit auszuholen, in den antiken Geschichten um Ödipus, Antigone oder Medusa? Neu ist – das beantwortet vermutlich auch gleich die nächste Frage – aber womöglich, dass andere Perspektiven hinzugekommen sind. Etwa die von Frauen*, die über Mutterschaft schreiben, oder umgekehrt von Töchtern, die über die Beziehungen zu ihren Müttern oder Vätern schreiben. Da fallen mir sofort Elfriede Jelineks „Klavierspielerin“ oder Lucy Frickes Roman „Töchter“ ein. Hinzugekommen ist auch Thematisierung nicht-heteronormativer Elternschaft, wie etwa in Maggie Nelsons „The Argonauts“.

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft, und kommt Vaterschaft als Thema möglicherweise seltener vor?
Fabienne Imlinger: Ich vermute, es gibt aktuell einen Markt bzw. eine Nachfrage für Bücher, die sich mit dem Thema Mutterschaft auseinandersetzen – und zwar insbesondere Bücher von Frauen. Dass sie dies auf eine bestimmte Weise tun, ist meiner Meinung nach neu. Da werden Tabus gebrochen, Rollenbilder, Klischees und gesellschaftliche Erwartungen hinterfragt. Aber ich glaube, man darf sich auch nicht täuschen: Diese Bücher kriegen vielleicht mehr Aufmerksamkeit (oder werden eben überhaupt veröffentlicht), aber insgesamt scheinen mir das immer noch nicht gar so viele Bücher zu sein. Die Annahme, es gäbe jetzt mehr Bücher zum Thema, kann auch schnell umgemünzt werden in: „Es reicht jetzt auch wieder, wir haben schon genug davon.“ Ich muss daran denken, was Maggie Nelson einmal im Anschluss an eine Lesung aus „The Argonauts“ erzählt hat – nämlich dass jemand ihr einmal gesagt habe, es gäbe genug Schilderungen von Geburten in Romanen, warum müsse sie das jetzt auch noch so ausführlich machen? Tatsächlich aber fiel ihr so gut wie keine vergleichbare Schilderung einer Geburtsszene ein. (Mir übrigens auch nicht.) Ob das Thema Vaterschaft weniger vorkommt, da bin ich mir nicht sicher – vielleicht ist das wieder eine Frage der Perspektive. Was vermutlich weniger vorkommt, sind Vater-Figuren, die Care-Arbeit übernehmen oder sich gar zum Großteil um Kinder kümmern, und zwar selbstverständlich und nicht so, dass das schon die eigentliche Geschichte ist. Und wenn das mal passiert, spontan fällt mir da z. B. Karl Ove Knausgard ein, dann nimmt die Care-Arbeit in diesen Tausend-Seiten-Büchern gefühlte drei Seiten ein.

Kannst du ein Buch empfehlen, in dem die Herausforderungen der Care-Arbeit literarisch überzeugend dargestellt werden?
Fabienne Imlinger: Eines auszuwählen fällt schwer, deshalb hier gleich zwei, zuerst „A life’s work: on becoming a mother“ („Lebenswerk“) von Rachel Cusk. Als das Buch in England 2001 erschien, gab es Stimmen, die meinten, man solle Rachel Cusk das Sorgerecht für ihr Kind entziehen. Als die deutsche Übersetzung 2019 erschien, wurde Cusk gefeiert für die Schonungslosigkeit, mit der sie ihre eigenen Erfahrungen und die gesellschaftlichen Verhältnisse und Erwartungen im Hinblick auf Mutterschaft beschreibt. Wie in ihren Romanen ist Cusk auch hier eine unvergleichliche Erzählerin und Meisterin der klugen, nuancierten Beobachtungen. Als zweites möchte ich „Chanson douce“ („Dann schlaf auch du“) von Leila Slimani empfehlen. Das Buch liest sich wie ein Psychothriller: Am Anfang steht die Ermordung von zwei Kleinkindern durch ihr Kindermädchen Louise. Warum es dazu kam, versucht dieser Roman nicht zu erklären. Slimani beschreibt vielmehr in starken Bildern, wie es dazu kam: Sie zeichnet subtil die Machtverhältnisse nach und beleuchtet die Art und Weise, wie sich Klasse und race in Care-Arbeit einschreiben.

Fabienne Imlinger arbeitet als Literaturwissenschaftlerin und Autorin in München. Gemeinsam mit Martina Kübler betreibt sie den Podcast „Ich lese was, was du auch liest“. Ihr Kind kam 2015 zur Welt.