Meine Schreibroutine am frühen Morgen:

Nackte Kinderfüße auf der Treppe gegen sechs.

Meine Schreibroutine am Abend:

Es ist noch so hell, Mama, es kann ja gar nicht Schlafenszeit sein.

 

Mittlerweile bin ich routiniert darin, den Alltag nach Ritzen abzutasten,

in denen ich kurz verschwinden und schreiben kann.

Das läuft gut, sogar auf Spielplätzen oder im Zoo.

Sicher, die Ritzen könnten etwas größer sein,

oft passt nicht viel Text hinein.

Aber ich bin froh, dass es sie gibt,

nah am Kind und nah am Text.

Variation für gute Tage

Ich stelle den heißen Tee neben den Laptop und starte den Timer. 30 Minuten habe ich Zeit.

Solange machst du Mittagsschlaf. Solange übt deine Schwester Klavier.

Mit langen Pausen zwischen den einzelnen Noten spielt sie ein Stück namens Orgelklang.

A-E-C-E-G-A-C-A-G-H. In endloser Wiederholungsschleife.

Du hast dich an die Tonfolge gewöhnt.

Brauchst sie wie meine Hand, damit du einschläfst.

Jetzt habe ich nur noch 28 Minuten.

Ich weiß doch, wie knapp die Zeit ist.

Weshalb mache ich auch erst Tee, bevor ich zu schreiben beginne?

A-E-C-E-G-A-C-A-G-H.

In der Musik ist die Variation die Veränderung eines Themas.

In der Variation ist es erlaubt, Rhythmus und Melodie zu verändern.

Töne hinzuzufügen. Akkorde umzudeuten und zu ersetzen.

A-E-C-E-G-A-C-A-G-H.

Aber Variationen sind etwas für gute Tage. Für Variationen braucht man Mut.

Schritte tapsen in Richtung Musik. Eigentlich habe ich noch 17 Minuten.

Ich warte auf Geschrei. Aber als ich komme, sitzt du unter dem E-Piano.

Andächtig hörst du deiner Schwester und der neuen Tonfolge zu:

A-C-A-G-E-C-A-G-A-H.

 

„Kommt ihr noch kurz ohne mich zurecht?“ – Nicken.

Ich setze mich zurück an den Schreibtisch.

Der Tee ist noch warm.

 

In den schlimmsten Phasen der Einschlafbegleitung

(sie sind zum Glück vorbei) rechnete ich ständig aus, wie viel Lebenszeit mich dieses Ritual kosten würde. Damals lag ich Abend für Abend rund 60 Minuten neben einem Kind. Im Wohnzimmer, das wusste ich, wartete der Laptop mit E-Mails, die beantwortet werden wollten. (Ein Vertrag für eine Lesung. Die Frage von einer Kollegin. Ein berufliches Treffen.) Oder ein Rechercheauftrag. (Sandalen Größe 26. Mineralische Sonnencreme. Länderwoche in der Kita: wer kann etwas beisteuern?) Manchmal wartete sogar ein Buch. (Es war die Rachel-Cusk-Phase.) Aber ich lag auf dem Boden und hielt ein kleines Händchen, jeden Abend eine Stunde, also 365 Stunden im Jahr. Das waren 15 Tage pro Jahr! Wenn das so weiterging, bis das kleinere Kind sechs war (damals war es eins), dann wären das 75 Tage! 75 Tage meines Lebens, in denen ich auf dem Boden liegen und ein kleines, liebes Händchen halten würde! Da ich ein Drittel des Tages schlief, nein, diese Zeiten waren vorbei, sagen wir realistischerweise: ich schlief ein Viertel des Tages –, da ich also ein Viertel des Tages schlief, wären das nicht etwa nur zweieinhalb Monate, sondern (hier wurde die Rechnung kompliziert) sogar etwas über drei Monate. 93 Tage meines Lebens würde ich auf dem Boden liegen, ein kleines, liebes, warmes Händchen halten und Lieder singen! Einschlaflieder. (Guten Abend, gute Nacht. Weißt du, wie viel Sternlein stehen?) Lieder aus meiner Kindheit. (Die Heimat hat sich schön gemacht. Der kleine Trompeter.) Choräle aus meiner Zeit im Unichor. (Wie soll ich dich empfangen? Ehre sei Gott in der Höhe.) 93 Tage, diese Zahl machte mich unglaublich wütend, und ich erinnere mich noch gut an diese Wut. Gleichzeitig denke ich heute: Drei Monate, was ist das schon? Schau dir an, wie groß diese Hände jetzt sind! Und doch glaube ich, dass ich diese Wut nicht wegwischen darf. Dass ich vielmehr einen Raum finden möchte zwischen der damaligen Wut und meiner heutigen Gelassenheit. Dass ich diesen Raum besser kennenlernen möchte für alles, was noch auf mich zukommt.

Fast wie früher

Die Müllabfuhr weckt mich. Den ersten Kaffee trinke ich nackt in der Sonne auf dem Balkon. Ich dusche den Boiler leer. Ich setze mich mit einer Zeitung ins Café. Ich teile mein Fischbrötchen mit dem orangenen Kater, der auch den Ausflugsdampfern nachsieht. Im Museumsshop kaufe ich einen Bildband und lege mich damit ins Gras. Wie lange blüht eigentlich schon der Flieder? Statt ins Kino zu gehen oder ins Theater, schlendere ich nach Hause. Ein vertrautes Gesicht hält mich an, Mensch, was machen die Kinder? Die stille Wohnung fülle ich mit Musik. Tanzend topfe ich die Glückskastanie im Schlafzimmer um und räume die Wäsche weg. Die Bratkartoffeln ertränke ich in Ketchup. An einem Bier nippend lese ich Ilse Aichinger, bis mir die Augen zufallen. Alles gut bei euch?, schreibe ich aus dem Bett. Du fehlst uns, kommt es zurück. Und du? Kannst du gut arbeiten? Ja, fast wie früher.

 

Wenn – dann

Wenn ich sage, wir können auch erst Zähne putzen und dann den Pyjama anziehen, dann kannst du darauf bestehen, dass das Nachtlicht anbleibt.
Wenn ich die Datei heute Abend wieder nicht öffne, dann werde ich es morgen auch nicht tun – zuletzt geöffnet vor vier Wochen.
Wenn ich dir beim Anziehen der Schuhe helfe, dann muss ich jedes Mal diskutieren, ob du auch heute dafür zu müde bist.
Wenn ich an dem Kapitel heute nicht weiterschreibe, dann sind mir die Sätze endgültig entglitten. „Wenn dann“ hat in Erziehungsratgebern auf Augenhöhe keinen Platz, wenn es nur um das Androhen von Konsequenzen geht. Ich möchte glauben, dass ich Rücksicht nehmen und von Routinen abweichen kann, auch wenn du Bausteine gegen die Wand wirfst, weil du gestern ausnahmsweise vor dem Kindergarten noch spielen konntest.
Wenn ich nicht so müde wäre, hielte ich nicht so krampfhaft an Plänen fest.
Und dann geht es plötzlich doch, dass du das Brotmesser zurücklegst, ohne dass sich jemand von uns schneidet.
Wenn ich mir heute erlaube, die Augen zu schließen und den Text sein zu lassen, kommt vielleicht trotzdem der Tag, an dem ich nicht nur im Kopf schreibe.

Wenn – dann: Texte zu Routinen des Schreibens und des Alltags mit Kind

„Routinen geben Halt“ heißt es in unzähligen (Schreib- und Erziehungs-) Ratgebern.

Aber wie funktioniert dieses Zusammenspiel von Wiederholung und Variation? Wie viel (Schreib-) Routine brauchen und vertragen Kind, Text und Autor*in? Wie lassen sich Routinen des Care-Alltags  und Schreibroutinen vereinbaren? Wie verläuft der Grat zwischen Sicherheit und Langeweile, Haltlosigkeit und Innovation?

Diese und andere Fragen reflektierten die Autor*innen Sabine Schönfellner, Dmitrij Gawrisch, Katharina Bendixen, Silke Sutcliffe und Angela Lohausen in der vorliegenden Reihe. – Spannend ist die Ambivalenz, die sich in allen Texten zeigt. Die Texte erzählen gleichermaßen von der Sehnsucht nach Routine und der Sehnsucht danach, mit Routinen zu brechen. – Und oft scheint es gerade die Abkehr von gewohnten Verhaltensmustern zu sein, die uns Chancen bietet, gänzlich neue und oft bereichernde Wege einzuschlagen.