Ich, wir

Heute Morgen fuhr ich ins Atelier ohne Fahrradhelm. Hier schreibe ich nun ein paar Stunden lang.
Gestern Nachmittag fuhr ich ausnahmsweise mit den Kindern im Anhänger ins Atelier und trug einen Fahrradhelm. Im Atelier haben wir gemeinsam einen Tee getrunken.
Wir, das waren, beim Teetrinken: 2 Kinder und ich – eine Mutter mit ihrem Nachwuchs.
Wir, das sind, zu Hause: 2 Kinder, 2 Erwachsene – eine Familie.
Wir, das sind eigentlich: 2 Kinder, 3 Erwachsene; aber nicht alle leben im selben Haushalt – eine Familie?
Wir, das sind: 4 Familien, 3 Einzelpersonen – eine Genossenschaft.
Wir, das bin ich mit meinen Figuren im Atelier – eine Gemeinschaft?
Ich fahre täglich ins Atelier, am liebsten alleine.
Das Atelier: Ein einfacher Raum; zerschlissener Teppich, ein rotes Bücherregal, ein grosser Schreibtisch, Blick auf eine Autogarage.
Im Sommer ist es heiss hier drin, im Winter ist es kalt, aber das Atelier ist mir Raum genug. Ist mir Denkraum. Ist mir Spielraum. Ist ein Ich-Raum. Ist ein Wir-Raum. Leute kommen und gehen. Kinder kommen und gehen. Figuren komen und gehen. Buchstaben kommen und gehen. Ich bleibe gerne für mich.
Ich werde bald nach Hause fahren ohne Fahrradhelm. Am Tisch werden die beiden Kinder sitzen, mit von der Tomatensosse rotverschmierten Mündern. Der Papa der Kinder schöpft mir eine Kelle Nudeln auf meinen Teller.
Ich wusste nicht immer um die breite Variabilität des Wortes „Wir“.

Other Artists: Linn Schröder

Linn Schröder (geb. 1977 in Hamburg) studierte Fotografie in Hamburg und Zürich. Seit 2004 ist sie Mitglied von Ostkreuz, Agentur der Fotografen, seit 2016 zudem Professorin für Fotografie an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Hamburg.
Auf der Suche nach Motiven, die über sich selbst hinausweisen und zum Allgemeingültigen wie auch Poetischen hin durchlässig werden, streift Linn Schröder die klassischen Kategorien der dokumentarischen und der inszenierten Fotografie: Ihre jeweilige Umgebung genauestens beobachtend, entwickelt sie aus den wahrgenommenen Situationen heraus vielschichtige und gleichermaßen klare wie uneindeutige Bildwelten. Schröder arbeitet in umfassenderen aber auch kompakteren fotografischen Serien – dessen ungeachtet steht jedes Einzelbild, jedes Teilelement ihrer Serien für sich, ohne sich auf den Werkkontext oder den stützenden Serienverband zu verlassen.
Linn Schröder wurde im Jahr 2012 Mutter von Zwillingen. Das bedeutete für sie, dass sie längere Reisen, die bis dato die Grundlage vieler ihrer Fotoarbeiten bildeten, nicht mehr würde unternehmen können. Entsprechend beschloss sie eine Arbeitsweise zu etablieren, die das im Rahmen ihrer Situation als Mutter Machbare einschloss und sich dem Naheliegenden widmete. Schröder knüpfte an eine ältere Arbeit an und begann, befreundete Frauen mit ihren Kindern zu portraitieren. Über jene Bilder hinaus entwickelte sie folgend die umfangreiche, nach wie vor offene Fotoarbeit „Ich denke auch Familienbilder“, die Aufnahmen befreundeter Kinder sowie insbesondere Fotografien von Linn Schröders Töchtern versammelt. „Ich denke auch Familienbilder“ enthält jedoch keine Familienbilder im klassischen Sinne, keine Belegaufnahmen für gemeinsame Reisetätigkeiten oder Feierlichkeiten, keine Familienbande verortenden oder Wachstum und Entwicklungen dokumentierenden Gruppenaufnahmen. Dem Arbeitsansatz Schröders entsprechend weisen die Fotografien der Serie weit über das jeweils Abgebildete hinaus: Die dargestellten Kinder und die von ihnen an verschiedensten Standorten ausgeführten Handlungen generieren einen Durchlass zu einem traumartigen, mehrdeutigen und teilweise ambivalenten Blick auf hinter den Oberflächen verborgenen Welten. Vorwiegend auf Schwarzweißfilm im Außenraum fotografiert, verweigern sich die Aufnahmen zudem einer näheren örtlichen wie zeitlichen Verortung – Linn Schröders Fotografien lassen sich als allgemeingültig und gleichzeitig als zutiefst subjektiv erfahren. Über das gekonnte Trennen der Verbindung von Motiv und Bildaussage hinaus verändert Schröder während des Fotografierens auch die Beziehung zu ihren Kindern: Während des Arbeitens sieht sie sich nicht vorrangig in der Rolle der Mutter der Dargestellten. Von außen auf ihre in den verschiedensten Szenerien agierenden Kinder blickend, betrachtet sie diese als Schlüssel zu einer Vielzahl mehrschichtiger, offener Bilder.
Linn Schröders Arbeit „Ich denke auch Familienbilder“ wurde während der letzten Monate als Teil der Ausstellung “Family Affairs” in den Hamburger Deichtorhallen präsentiert.
Ein Großteil der im Kontext der Serie „Ich denke auch Familienbilder“ entstandenen Fotografien findet sich außerdem in der kürzlich bei Hartmann books erschienenen gleichnamigen Publikation.

nachflug

da ist er wieder

am Himmel
schraubt sich der Turmfalke
nach oben
lässt sich fallen

flankiert von einer Krähe
und
einem Rotmilan
Sie zanken

um die Beute
jeder für seine Küken

Traum III

Anne träumt: Sie schließt das Fahrrad vor dem Kindergarten an, ausnahmsweise ist sie nicht verschwitzt. Ausnahmsweise konnte sie das Büro zeitig verlassen, auf dem Weg hat sie sogar noch Brötchen gekauft.
Obwohl die Sonne scheint, sind die Kinder heute nicht im Hof. Anne steigt die Stufen nach oben. Schon von draußen hört sie, wie laut es im Innern ist. Sie müssen mehr rausgehen mit den Kindern, denkt sie, warum gehen sie mit ihnen nicht raus? Als sie die Tür öffnet, sieht sie einen Schatten ins Spätdienstzimmer huschen. Sie folgt dem Schatten, folgt dem Lärm. Auf der Schwelle des Spätdienstzimmers bleibt sie stehen: Der Raum ist voller Tiere. Kleine Affen, kleine Bären, kleine Löwen springen an ihr hoch, einer zieht einen Faden aus ihrer Strumpfhose, ein anderer fingert ein Käsebrötchen aus ihrem Rucksack. Anne weiß nicht, woran sie Liam und Junis erkennt. Es besteht aber kein Zweifel, dass es sich bei einem Tiger um Junis handelt, und Liam ist eine kleine Katze. Sie lockt die beiden mit Brötchen auf ihren Arm, die Krallen schneiden ihr schmerzhaft in die Haut.
Draußen setzt sie die zwei Tiere in den Anhänger, der sich in einen Käfig verwandelt hat. Der Käfig ist erschreckend schwer, und während sie durch den Park nach Hause radelt, gerät sie doch noch ins Schwitzen. Was Daniel wohl sagen wird, wenn er am Abend nach Hause kommt? Dass Junis‘ Fell sehr wertvoll ist? Dass sie Liams Krallen kürzen müssen? Dass sie, Anne, endlich strenger sein muss?
Sie schiebt das Fahrrad in den Hof und jagt die zwei Tiere durchs Treppenhaus in die Wohnung. Auch das Kinderzimmer ist ein Käfig, und als Junis und Liam drin sind, schlägt Anne schnell das Gitter zu. Im Kühlschrank findet sie einen Klumpen rohen Fleisches, von dem sie zwei dicke Scheiben abschneidet. Das Fleisch ist eiskalt, und Anne ist, als würden ihre Finger daran festkleben. Ihr ist, als könnte sie die Finger nie wieder davon lösen.

Rarely Asked Questions – Sarah Heine

Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Sarah Heine: Elternschaft ist für uns ein interessantes Thema, da es eine Möglichkeit ist, gesellschaftliche Vielfalt darzustellen und Stereotype abzubauen. Über die Literatur können Menschen in Kontakt mit Vielfalt kommen und etwas über unsere vielfältige Gesellschaft lernen. In Bezug auf Elternschaft kann das das Kennenlernen unterschiedlicher Familienkonstellationen sein, wie zum Beispiel die literarische Erzählung über Kinder, die zwei Mütter oder zwei Väter haben, oder aber Kinder, die in Patchworkfamilien mit einer Vielzahl von Eltern aufwachsen. Gleichzeitig bietet das Thema Elternschaft die Möglichkeit, Stereotype aufzubrechen – Stereotype über Rollenverteilungen und darüber, was „gute“ Eltern ausmacht und wer als Eltern definiert wird.

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft?
Sarah Heine: Wir denken, das Thema Mutterschaft rückt mehr in den Fokus, da Mütter ihre Rolle selbst definieren wollen. Sie wollen ihre Geschichten erzählen und damit die Deutungshoheit über ihre Rolle zurückgewinnen. Gleichzeitig bringt das Aufbrechen der alten Rollen Unsicherheiten bei Müttern mit sich, was das Thema zusätzlich literarisch relevant macht. Das Thema Vaterschaft wird nachziehen. Es gibt viele Väter, die es satthaben, als Hauptverdiener, starke Stütze etc. fremddefiniert zu werden, und ihre Stimme erheben, um andere Geschichten und andere Bilder über Väter in die Welt zu bringen. Und es gibt ja auch noch viele Menschen mit Kindern, die nicht als Mütter oder Väter definiert werden, es aber doch sind. Auch diese Personen werden zunehmend in der Literatur sichtbar.

Wie werden solche Bücher aufgenommen, was sind Ihre Erfahrungen?
Sarah Heine: Die Menschen, die ich kenne, lesen Bücher zu Elternschaft, weil sie auf der Suche nach neuen Wegen sind. Viele haben die alten Rollenbilder und Erwartungen satt und möchten einen Weg gehen, der besser zu ihnen und ihren individuellen Lebenssituationen passt. In Büchern suchen sie vor allem Inspiration und Identifikation. Das macht auch Literatur so interessant, die von Stereotypen abweicht. Menschen sehnen sich danach, dass auch ihre individuelle Position dargestellt wird. Diese Rückmeldung haben wir auch zum KINDERSTARK MAGAZIN. Menschen sind dankbar, dass es endlich ein Kindermagazin gibt, dass auch ihre eigenen Kinder abbildet und nicht das immer gleiche Stereotyp.

Sarah Heine, Kulturwissenschaftlerin. Seit 2021 Herausgeberin des KINDERSTARK MAGAZINs, wohnt in Berlin. Ihr Kind kam 2013 zur Welt.