In der Höhle der Tierärztin

Ich schaue immer häufiger zu der Uhr, die über dem Durchgang zu den Duschen hängt. Bis zur Essenszeit müssen wir noch fast eine halbe Stunde rumkriegen. A. strampelt sich durchs Wasser, sie versucht, die kleine Höhle zu erreichen, die sich unter dem Aufgang zur breiten Kinderrutsche befindet. Diese Höhle ist unser Zuhause und manchmal auch die Tierarztpraxis. Ich bin noch nicht sicher, ob wir gerade auf dem Heimweg sind oder mit einem Tier auf dem Weg zur Praxis, ich bin auch noch nicht sicher, wer von uns beiden jetzt die Tierärztin ist und ob wir gerade einen Frosch dabeihaben oder vielleicht eine Katze. Das Spiel macht mich müde, ich verliere manchmal den Faden, denn es passiert ja immer nur das: Wir sind zu Hause, wir müssen zur Tierärztin oder zum Tierarzt, wir müssen zurück nach Hause, wir müssen uns um den Frosch kümmern oder die Katze; zwischendurch fängt es immer mal wieder an zu regnen, darum müssen wir uns, wenn wir draußen sind, besonders beeilen. A. wirkt auch nicht so, als würde ihr das Spiel wirklich Spaß machen, aber alle Alternativvorschläge hat sie bislang abgelehnt: Die Rutsche gefällt ihr nicht, die Gegenstromanlage macht ihr Angst, für das Kleinkinderbecken ist sie noch nicht zu groß, aber doch schon zu wild, und vom Rand springen darf man hier sowieso nicht.
Irgendetwas habe ich nicht mitbekommen, A. wird wütend, sie sagt: Nein, du sollst doch das-und-das machen.
Mein Kopf schwirrt, wir spielen das jetzt bestimmt schon eine Stunde, und da reicht es mir und ich frage: Sag mal, meine Kleine, ist dir eigentlich langweilig?
Ein bisschen, sagt sie.
Ich muss lachen, A. schaut beleidigt.
Ich lache dich nicht aus, sage ich, ich finde nur lustig, dass uns beiden langweilig ist; was macht man denn, wenn einem langweilig ist?
Man geht auf ein Abenteuer, sagt A.
Ein Abenteuer, na gut, sage ich und überlege. Schau mal, da hinten ist noch eine große Rutsche, sollen wir uns die mal zusammen anschauen?
Hmm, nein, sagt sie und schaut weg.
Die ist wie ein langer Tunnel, sage ich, der geht ganz tief runter, in einen Berg, in einen Vulkan vielleicht, den können wir zusammen erforschen, da kannst du auch bei mir auf dem Schoß mitrutschen, und dann klettern wir den Berg wieder hoch, ich bin mal gespannt, welche Tiere wir da so treffen, sollen wir das mal probieren?
Jaaa, sagt sie, lacht und klammert sich an mir fest.
Ich gehe mit ihr durchs Becken zur Treppe und dann hoch zur Rutsche und bin froh, endlich dieser zermürbenden Endlosgeschichte um Frösche und Tierärztinnen entkommen zu sein. Ich hätte natürlich schon ahnen können, dass ich hier bloß eine Endlosgeschichte mit Fröschen gegen eine andere tausche. Immerhin sind es dieses Mal Vulkanfrösche.

Sieben unsichtbare Brüche

Vor ein paar Wochen bin ich Mutter geworden. Mit der Geburt meines Sohnes hat sich von einem Tag auf den anderen auch mein Schreiben verändert:
Schreibarbeit, die nur in Gedanken stattfindet, wenn das Kind zur Beruhigung an meinem kleinen Finger nuckelt. Wiederhole Sätze minutenlang, um sie nicht zu vergessen. Schließe die Augen, um mir den Satz vorzustellen. Gegen die Müdigkeit ankämpfen, einschlafen. Hochschrecken. Im Kopf nach dem Satz kramen, an den man so lange gedacht hat. Notieren? Später.
Fragmente, täglich ins Handy getippt, weil der Laptop im Bett beim Stillen zu unhandlich ist. Manchmal nur mit dem linken Zeigefinger. Kein Mut, die andere Hand auch noch wegzuziehen, wenn das Kind gerade darauf eingeschlafen ist. Also weniger Nebensätze, unkomplizierte Wörter. Die Großschreibung ist unwichtig geworden, Satzzeichen sind nicht länger von Bedeutung. Die Korrektur? Später.
Wenn dem Kind die Augen zufallen: Abwägen. Es können drei Minuten sein, oder dreißig. Oder drei Stunden. Da ist Hunger, da ist schmutzige Wäsche, da ist ein dreckiges Katzenklo. Schreiben? Später.
Dieser Text wird zusammengehalten durch sieben unsichtbare Brüche: Dreimal gestillt, einmal Windeln gewechselt, zweimal getröstet, einmal eingeschlafen. Ein Ganzes, scheint er, für alle anderen. Er zerfällt nur für mich.

Danksagung

Allein hätte ich diesen Text niemals schreiben können.
Ohne dich wäre ich bestimmt zu spät aufgestanden, zu spät ins Bett gegangen, die Zeit dazwischen vergeudet.
Ich würde seltener warm kochen, mich insgesamt weniger vollwertig und vitaminreich ernähren.
In den Coronatagen wäre mein Bauch noch dicker geworden und mein Rücken noch runder. So aber fingen die Morgen mit gemeinsamer Gymnastik an und gingen, als die Sportplätze wieder aufmachten, mit Fußball und Frisbee weiter.
Ohne dich wüsste ich höchstens vom Hörensagen, dass Berlin zwei Zoos hat, ich wäre nur zu Recherchezwecken im Technikmuseum gewesen und hätte Michel aus Lönneberga nie kennengelernt.
Dank dir habe ich meinen Vater in mir entdeckt, der sich nur durchsetzen konnte, indem er laut wurde und mit dem Gürtel drohte. Du hilfst mir, die Manipulationsmaschen meiner Mutter zu durchschauen. Seit es dich gibt, werde ich selbst erwachsen.
Als du sagtest, du würdest lieber vor mir sterben, um mich nicht alt werden zu sehen, da antwortete ich kategorisch: Nein. Ich zitierte König der Löwen, den Kreislauf des Lebens. Davor hatte ich insgeheim gehofft, die Ausnahme zu sein. Die, so Irmtraud Morgner, dem Tod ein Schnippchen schlägt.
Apropos: Weißt du, dass du mir das Leben gerettet hast? Eigentlich wollte ich der Hautärztin bloß dein Muttermal am Rücken zeigen, aber da ich schon mal da war, zeigte ich ihr auch meine eigenen. Das kleine schwarze muss sofort weg, sagte sie, und die Laboruntersuchung gab ihr recht.
Du kannst dich nicht in Luft auflösen. Damit müssen auch meine Auftraggeber leben. Ich kann mit dir nicht zu meinen Eltern oder Freunden auf die Couch ziehen, wenn mir das Geld ausgeht, deshalb kann ich auch keine unbezahlten Aufträge annehmen, tut mir leid.
Und seien wir ehrlich, ohne dich wäre der Roman auch noch nicht fertig. Aber du bist natürlich die allerbeste, glaubhafteste Ausrede.

Zwischenruf oder: Was ich als Care-Autorin erwarten kann (und was nicht)

Einige Nächte habe ich mir vor der Bewerbung als Regionsschreiberin den Kopf zerbrochen, wie das gehen sollte – einfach aussteigen, vier Monate Präsenzpflicht und die Kinder müssen doch in die Schule, zum Sport, zur Logopädin, wollen essen, getröstet werden, brauchen jemanden, der ihnen zuhört, Mut zuspricht. Bevor ich die Bewerbung abschickte, las ich online ein Interview mit einem Autor aus dem vorigen Durchgang – dem einzigen von zehn Teilnehmern mit Kindern, so wie auch ich in diesem Jahr von zehn AutorInnen die einzige mit Kindern sein würde –, in dem er deutlich machte, dass er nicht die ganze Zeit vor Ort sein konnte, Familie eben. Dieser Text in meinem Kopf war die geistige Briefmarke, die ich auf meinen Antrag klebte. Doch als ich auf Versenden drückte, flatterte auch mein Mut mit dem knisternden Geräusch eines sich leerenden E-Mail-Ordners davon. Der Wunsch, doch wieder eine Absage zu bekommen, um nicht dieser ständigen Zerrissenheit ausgeliefert zu sein, war auf einmal sehr mächtig.
Nach der Zusage wurde die Organisation ein komplexes Gebäude aus vielen Etagen, der Traum davon, den Engel auszusperren, wurde in den Wind und auf Sand gebaut, ein mit neunzig Seiten vollgeschriebenes Heft, der Alltag meiner Kinder durchgetaktet vom Aufwachen bis zum Einschlafen, wer macht was und vor allem wann, ich hätte es genau gewusst, auf achthundert Kilometer Distanz, jeden Atemzug meiner Gören mit geschlossenen Augen und sogar ohne Wifi an Ort und Stelle benennen können, wenn nicht Corona gekommen wäre, das mein organisatorisches Kunstwerk wie ein Kartenhaus zusammenbrechen ließ.
Corona, und an Schule oder Betreuung war nicht mehr zu denken. Die Residenz wurde aber nicht abgesagt, der Aufenthalt verlängert. Sobald die Lockerungen kamen, habe ich die Kinder einfach mitgenommen. Auch andere SchreiberInnen waren in dieser liminalen Corona-Zeit nicht allein im Stipendium, Partner, Haustiere – AutorInnen haben eben nicht nur Stifte und Papier, sondern auch ihr ganzes Leben im Gepäck. Eine befreundete Stipendiatin musste für die Anwesenheit des Partners aus der eigenen Tasche zahlen, so auch ich für meine Kids. Offenbar gibt es (noch) keine Töpfe für Care-AutorInnen, offenbar hat man sich weiter oben (noch) keine Gedanken gemacht, dass auch AutorInnen einen Alltag haben mit Anhang und dem ganzen Gedöns. Dafür braucht es mehr als nur ein Zimmer mit Bett und Tisch.

Ich will …

1. weniger gestresst sein
2. mehr schreiben
3. den Kindern ausgeglichen begegnen
4. weiter so viel verdienen, dass unser 50/50-Modell funktioniert
5. den Kindern helfen, selbstständige, selbstbewusste und kritische Menschen zu werden
6. mehr lesen
7. politisch sein
8. viel schlafen und essen
9. mich mehr bewegen
10. alles dafür tun, dass meine Kinder nicht-sexistische und nicht-rassistische Männer werden
11. das Leben genießen
12. intelligent sein
13. dass mein Rasen grüner ist als der der Nachbarn
14. mich und meine Texte nicht so oft mit anderen vergleichen
15. den Vater meiner Kinder weiter lieben, möglichst für immer
16. Bewertungen von außen und Kritik weniger an mich herankommen lassen
17. gut aussehen
18. eine gute Freundin sein

Korrespondenzen

E-Mail von A an mich:
Hey, kannst du versuchen, bis nächsten Mittwoch (übermorgen) die drei kurzen Texte durchzusehen? Es geht ganz schnell.

E-Mail von B an mich:
Habe ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, dass du grad echt viel zu tun hast (willst ja selbst endlich ins Schreiben kommen), aber: Der Freund von X hat einen neuen Job als Übersetzer angefangen (aus dem Deutschen ins Englische) und mir fällst wirklich nur du ein als Hilfe für ihn. Nur so ein kurzer Essay, damit es im Gröbsten stimmt. Ich selbst trau mir das nicht zu – denkst du, du kannst das irgendwie zwischendurch unterbringen?

E-Mail von C an mich:
Viiiiieeeeeeeelen Daaaaank! Unglaublich, ist richtig toll geworden. Du bist die Einzige, die die Kommaregeln echt verstanden hat! Danke! PS: Ah, und übrigens hatte D doch keine Läuse, sondern Sonnenbrand. In der Kita sind grad eher Magenwürmer der „Trend“, haha.

Schreiben vom Jobcenter an unsere Bedarfsgemeinschaft:
Nach den vorläufigen Entscheidungen vom dd.mm.yyyy ergeht nunmehr eine abschließende Entscheidung. In folgenden Punkten bin ich von Ihren Angaben abgewichen:
Frau Ivanova:
(…)
Sie haben wie folgt Leistungen erhalten, ohne dass hierauf ein Anspruch bestand:
(…) ist die Differenz zu erstatten.

Brief von mir an Y:
Ich kann mich echt nicht beschweren. Etwas Neues (mit Bezahlung!! SV-pflichtig!) ist in Sicht, mit Menschen, die ich erst kennenlerne, die mir aber sehr sympathisch sind (du siehst mich auf Holz klopfen: Toi, toi, toi!). Übrigens, weißt du, dass man sich auf „Toi, toi, toi!“ nicht bedanken darf? Bringt Unglück. Nur so, zu deiner Info. Ich erzähle mehr, wenn es ganz in trocknen Tüchern ist, ja? Dann ruf ich dich auch mal an. Obwohl, Briefe sind der eigentliche Luxus des Lebens, denn sie sind wirklich zeitrationell nicht zu verkraften. Du siehst, wie wichtig du mir bist!
Und ansonsten steht mir Anke Stelling vor Augen. Bei ihr sind die Produktionsbedingungen (die Kinder, die Vergangenheit) Teil der Literatur, die sie nur so produziert. Sie übertreibt es nicht mit verrückten Formbrüchen (nicht wie ich, als ich damals einen Text aus lauter unterbrochenen Gedankensätzen einreichen wollte), sondern nimmt die Spannung der Zerreißprobe in ihr Werk. Aber dadurch wird sie vermutlich noch lange „die mit dem Mutterschaftsthema“ sein, und darauf hab ich nun gar keine Lust (abgesehen davon, durch Stelling wäre dieser Platz auch besetzt).
Nun gut. Fischsuppe mit Nudeln muss herbei. Entschuldige, dass ich so viel rumstreichen und ergänzen musste, vor allem die Klammern; aber sonst wäre ich nie fertig geworden. Also: Ciao! Warte auf Antwort.