Wir schauen ins Blau …

… vor uns die Scheibe, die weiter nach oben reicht, als wir zusammen groß sind, wenn ich mein Mädchen auf den Schultern trage. Aber jetzt will sie wieder auf den Boden. Die Pinguine werden gefüttert und schnellen wie kleine Raketen durchs Bild.
Mein Mädchen drückt die Nase an die Scheibe und gleich muss ich ihr sagen, dass sie das lassen muss. Wegen der anderen Nasen, die da täglich drangedrückt werden, und weil jemand das putzen muss. „Wenn ich mal ein Pinguin bin“, sagt sie und benutzt keinen Konjunktiv, „dann kann ich auch so schwimmen, oder?“ Sie sagt es, wie sie es meint. Nicht als Hypothese, nicht als Wunsch oder Möglichkeit, sondern als etwas, dass in der Zukunft mit ziemlicher Sicherheit eintritt. So wie sie sagt: „Wenn ich groß bin, dann kann ich auch lesen oder? Dann kann ich mir selbst ein Eis kaufen.“
Ich räuspere mich, will sagen: „Ich glaube, du wirst nie ein Pinguin.“
„Warum nicht?“, würde sie fragen und mich verständnislos ansehen.
„Das stimmt“, sage ich stattdessen, „das habe ich vorhin auch schon gedacht. Wenn ich mal ein Elefant bin, dann kann ich mich an alles erinnern. Weißt du. An das, was du gerade machst, an das, was du tun wirst, alles. Dann vergesse ich nichts mehr. Und wenn ich mal eine Eule bin, dann bin ich die ganze Nacht wach und kann all die Arbeit erledigen, die liegen bleibt. Und tagsüber kann ich schlafen, nur schlafen.“
„Du kannst keine Eule sein“, sagt mein Mädchen.
„Wieso denn?“, frage ich und schaue sie verständnislos an.
„Du bist doch schon meine Mama.“
„Ach so“, sage ich, „ja, das stimmt.“

Holmsland Klitvej 109

Wir folgten unserem
Navigationssystem

Auf der Nachtseite
des Fjords blinkten
die Windradlichter rot
im Nebel und unser
Kind im Halbschlaf
quengelte und wir
hielten inmitten von
Schwärze und Regen

Im Sechssekundentakt
die Sonnenbahn
eines Leuchtturms
über unseren Köpfen

Und im Smartphonelicht
mein Bleichgesicht:
Wir hatten uns verfahren

Just another cup of milk

Aus gegebenem Anlass frage ich mich schon eine ganze Weile, warum es von Seiten der Wissenschaft keinerlei Bestrebungen gibt, die Sorgearbeit des Stillens gleichberechtigt auf die zwei (oder mehr) Eltern zu verteilen. Bei einer Recherche bin ich lediglich auf »Seltenheiten«, »Raritäten« und »Exotisches« gestoßen. So wird ein Mann aus Indien angeführt, der, nach dem Versterben der Mutter, seine Kinder stillte. Weitere »Einzelfälle« sind bekannt, und auf Nachfrage in einschlägigen Blogs und Internetforen habe ich die Antwort erhalten, die eigenen Brustwarzen müssten nur eine längere Zeit gleichmäßig stimuliert und die Milchproduktion würde angeregt werden. Dabei gehen die Empfehlungen weit auseinander. Von zwei Wochen bis zu sechs Monaten ist die Rede. Auch bezüglich Richtung und Intensität der Massagebewegungen sind die Ratschläge uneindeutig. Einzelne Hebammen reagieren irritiert. Nachgefragt bei »Geburtsabteilungen« und »Neugeborenenstationen« einschlägiger Unikliniken bin ich jedes Mal auf Unverständnis gestoßen. Stillen, so habe ich gehört, sei ein gänzlich natürlicher Vorgang, sehr zum Wohl des Neugeborenen, und habe, im Idealfall, eine emotionale Bindung zur Folge.
Im Konkreten heißt das, dass die Forschung sich weigert, sich mit diesem Thema zu befasst. Warum dies so ist, dafür gibt es unterschiedliche Antworten. Die erste – dass es aus hormoneller Sicht zu Komplikationen führt, sollte Mann z.B. sich einer Hormonellenbehandlung unterziehen, um die Milchproduktion anzuregen – ist als ausweichend zu klassifizieren. Andere hormonelle Behandlungen (z.B. die berühmte »Freiheit der Frau«, bezeichnet als »die Pille«) sind seit Jahrzehnten Praxis und werden von Teilen der Wissenschaft hartnäckig verteidigt. Bei der weiteren Nachforschung zu dem Thema stößt man(n) dann auf die Antwort, dass es Bedenken darüber gibt, weitere Forschung auf diesem Gebiet zu betrieben, da »nicht ausgeschlossen werden kann, dass nach einer solchen Behandlung, nachdem sich also funktionsfähige Brüste beim Mann entwickelt haben, es zu Komplikationen bei der Rückbildung führen könnte«. Konkret heißt das, dass Vorbehalte bestehen, Männern (in diesem Fall (biologischen) Vätern) zuzumuten, dass sie für »eine geraume Zeitspanne« Brüste hätten.
Einzig bleibt der Schluss zulässig, dass es auf Grund einer patriarchalen Struktur innerhalb des Forschungsfeldes, entsprechend einer gesellschaftlichen Gesamtsituation, zu keinerlei Veränderungen kommt. Dass diese Rechtfertigungsstrategie nach wie vor biologistischen Narrativen in Hinblick auf Sorgearbeit und konkret bei der Betreuung von (Kleinst)Kindern Vorschub leistet, ist augenscheinlich. Es wird Zeit, dass wir uns alle (!) von unserer sogenannten Natur emanzipieren und gerade im Bereich der Sorgearbeit für mehr Gleichberechtigung kämpfen. Brüste mit Milch für alle!

Waschen

Ich kann nur schreiben, wenn die Waschmaschine läuft. Sobald die Kinder weg sind und meine Schreibzeit, die wirklich rar ist, beginnen könnte, sortiere ich erst noch 30 Grad und 60 Grad und Wolle. Es gibt immer Wäsche; die Maschine ist jedes Mal voll genug, um ihr Einschalten zu rechtfertigen. Aber ich frage mich seit Jahren, warum ich das Wäschewaschen in meine Arbeitssphäre vordringen lasse, wo ich diesen Bereich doch sonst mit scharfen, mit schärfsten Krallen verteidige.
Beim Anheben des Korbs ärgere ich mich, beim Einfüllen des Pulvers, beim Hineinstopfen der Kleider in die Trommel. Ich ärgere mich. Ich werde hektisch, weil ich ja schon längst arbeiten könnte, schon seit zehn Minuten mindestens, und in zwei Stunden werde ich die Wäsche auch noch aufhängen müssen – was länger dauert als das bloße Anstellen.
Neulich las ich Kathryn Chetkovichs Essay „Neid“ (aus dem Sammelband „Schreibtisch mit Aussicht“). Darin erzählt Chetkovich nicht nur, wie es ist, Schriftstellerin zu sein, sondern auch, wie es ist, weniger erfolgreich zu sein als Jonathan Franzen. Chetkovich ist Franzens Lebensgefährtin. Sie schreibt so mutig-ehrlich, dass mir beim Lesen die Tränen kamen.
In diesem Text erwähnt sie eine Freundin, mit der sie sich über ihre Sinn- und Schaffenskrisen austauscht. Durch einen Krankheitsfall in der Familie kommt die Freundin von einem Tag auf den nächsten nicht mehr zum Schreiben. Chetkovich über sie: „Ich höre die Angst und den Schmerz in ihrer Stimme, aber ich höre auch die Mobilisierung der Kräfte, das Listen-Machen und Essen-Kochen, das dankbare Anpacken. Natürlich hätte sie sich so etwas nie gewünscht, aber sie hat wieder eine Aufgabe; es ist klar, was getan werden muss, es ist klar, dass sie weiß, wie es geht, und dass sie gut darin ist. Sie krempelt die Ärmel hoch, (…) und es ist schwer zu argumentieren, dass irgendetwas auf der Welt wichtiger wäre.“
Ich dachte an meinen Tick. Und mir wurde klar, warum ich an meinen Arbeitstagen Wäsche wasche: Es beruhigt schlichtweg mein Gewissen. Obwohl ich ihr nun schon eine ganze Weile nachgehe, muss ich die schriftstellerische Arbeit noch immer vor mir selbst verteidigen. Als sinnvoll, als wertig, als wertiger als das „echte Machen“, als wertiger als das Für-andere-dasein. Als so wertig, dass ich dafür sogar meine Kinder „abgeben“ darf.
Während die Wäsche sauber wird, kann ich mir nicht mehr ganz so viel Egoismus vorwerfen. Ich tue ja wenigstens noch etwas „Richtiges“, anstatt nur darüber zu sinnieren, ob sich meine Protagonistin verlieben sollte (in die andere Protagonistin, deren Rhodesian Ridgeback vor ein paar Seiten gestorben ist).
Kurz tat mir meine Erkenntnis gut, aber sie ändert natürlich nichts. Ich kann nur schreiben, wenn die Waschmaschine läuft.

Schreiben im Kopf

Wir sind jeden Tag damit beschäftigt, uns was einfallen zu lassen. Wenn das Baby weint, lassen mein Mann und ich uns was einfallen, wenn es sich langweilt, lassen wir uns was einfallen, wenn es nicht schlafen kann, lassen wir uns was einfallen, wenn es schreit, lassen wir uns was einfallen, wenn es frustriert ist, lassen wir uns was einfallen. Und wenn es einfach nur beschäftigt werden will, lassen wir uns auch was einfallen. Das Baby spielt auch mal allein. Dann erledige ich entweder wie ein Roboter die Dinge, die liegen geblieben sind, oder ich lehne mich zurück und realisiere, wie erschöpft ich bin. Das fühlt sich schlimm an. Also arbeite ich lieber, was die Situation in der Hinsicht nicht besser macht. Wenn nicht bald Normalität einkehrt und wir Hilfe von Familie und Freund:innen bekommen können, die wir wegen der Kontaktsperren gerade kaum sehen, dann müssen wir uns was einfallen lassen. Wenn der Vater des Kindes, der als selbstständiger Tätowierer schon im ersten Lockdown nicht arbeiten konnte, ab Februar nicht wieder Geld verdienen kann, dann müssen wir uns was einfallen lassen. Dieses ununterbrochene Lösen von Problemen macht mich verrückt. Ich sitze manchmal nachts weinend im Bett und habe das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Ich habe überlegt, meine Situation aufzuteilen in kleine Happen und mir für alles eine Lösung zu überlegen. Aber ich kann nicht. Ich will nicht. Ich will mir nichts mehr einfallen lassen. Mein Kopf ist leer. Ich kann nicht mal mehr überlegen, wie ich länger durchhalte.
An dieser Stelle des Textes wird es spannend. Energie erfüllt mich plötzlich, ich atme tiefer, der Kloß in meinem Hals wird kleiner. Das passiert mir beim Schreiben oft. Egal woran ich arbeite – ob es ein Roman oder ein Blogbeitrag ist –, alles fühlt sich weniger dringlich an. Denn ich kann nicht wütend sein, und ich kann nicht gut über meine Probleme reden, das habe ich nie gelernt. Mit dem Schreiben habe ich einen Fluchtweg. Es verändert sich nichts, aber ich halte das Unveränderte länger aus. Ich dachte, meine ersten Monate mit Kind, das erste Jahr, würden von Inspirationslosigkeit und Schreibfaulheit geprägt sein. Aber mir kommen so viele Ideen, Sätze, Plots und Projekte in den Sinn wie nie zuvor. Meistens komme ich allerdings nicht dazu, sie aufzuschreiben. Dieser Text ist eigentlich heute Nacht entstanden, als mein Mann unseren Sohn durch die Wohnung trug und zu mir sagte: „Schlaf noch ein bisschen.“ Und ich lag noch einige Minuten wach und dachte daran, etwas aufzuschreiben. Wie es mir geht, dass ich mich hilflos fühle und ausgebrannt; dass ich schreiben will und könnte. Schreiben könnte am nächsten Buch, oder tausend anderen Texten. Aber dann denke ich: Bist du irre, du musst schlafen, alles ist noch da, wenn du wieder aufwachst, und auch morgen noch, und übermorgen, und nächste Woche. Also versuche ich mir, zu merken, was ich schreiben will, schreibe es im Kopf. Und ich lächle sogar, weil es mich glücklich macht, dass im Kopf Platz ist für das, was ich am liebsten tue und am besten kann. Und dann schlafe ich ein. Wenn ich aufwache, ist alles weg. Jedes Mal.

Auszug aus einem längeren Prosatext

Rarely Asked Questions: José F. A. Oliver

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft? Und wieso kommt Vaterschaft als Thema seltener vor, oder ist das gar nicht so?
José F. A. Oliver: Ich vermute, dass die „traditionellen“ Vorstellungen von Familie und deren überlieferten Rollenverteilungen (Mutter/Kind/Vater) oder (Kind/Mutter/Vater) in unseren gesellschaftlichen Breiten immer noch am stärksten ausgeprägt sind im Vergleich zu anderen Bindungen des Zusammenlebens. Insofern, voilà: die „Mutterrolle“, und voilà: die „Vaterrolle“. Zumindest hier im ländlichen Raum nicken die meisten Menschen sicherlich ohne großen Erklärungsbedarf, wenn beispielsweise das Wort „Mutterschutz“ zur Sprache kommt … „Vaterschutz“ ist dann doch (noch) eher selten anzutreffen – als Begriff – und in der Tat. Wenngleich es immer mehr Väter gibt, die sich für eine „Elternzeit“ entscheiden. Vielleicht trägt diese sich verändernde Wirklichkeit der nicht mehr so absolut zugewiesenen Aufgaben künftig dazu bei, dass auch mehr zu den „Vaterschaften“ und deren Herausforderungen publiziert werden wird. Überhaupt sollte – nein, muss man über viele Begrifflichkeiten nachdenken, die mit dem Bedeutungshof des Wortes „Familie“ zusammenhängen. Ab wann und unter welchen Aspekten ist jemand Familie? Das wäre nur eine der vielen Fragen.

Stehen schreibende Väter vor anderen Problemen als schreibende Mütter?
José F. A. Oliver: Je nachdem, welche Aufgaben sie als Väter oder Mütter in der Verantwortung für das gemeinsame Kind übernehmen. Kümmern sie sich in erster Linie um das Kind oder um ihre Berufe, oder können sie beides gar miteinander vereinbaren? Letzteres stelle ich mir schwierig vor, wenn nicht gar schier unmöglich. Es kommt natürlich auch auf das Alter des Nachwuchses an. Sind die Kinder im Babyalter, in dem sie noch gestillt werden, beispielsweise. Väter können ja nicht stillen – zumindest nicht auf natürlichem Weg, ich meine von den körperlich-biologischen Voraussetzungen her. Wenn die Kinder dann größer sind, stellen sich wahrscheinlich dieselben Probleme ein, wenn sich die Väter um die Kinder kümmern und die Mütter einem Beruf nachgehen: Wann Zeit finden, um zu schreiben, wenn das Kind noch nicht im Kindergarten ist, beispielsweise. Tatsache ist aber auch, dass sich bisher weit weniger Mütter (in einem bestimmten Alter) um ein Aufenthaltsstipendium des Hausacher LeseLenzes beworben haben als junge Väter. Ist das Zufall oder Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeiten?

Kann der Literaturbetrieb familienfreundlicher gestaltet werden, und wenn ja wie?
José F. A. Oliver: Er kann nicht nur, er muss (!) familienfreundlicher gestaltet werden. Eine Möglichkeit wären „freie“, d. h. ortsungebundene „Familienstipendien“ für Autor*innen, ohne Auflagen und, wo es entwickelbar wäre, ohne Präsenzpflicht. Im Rahmen des Hausacher LeseLenzes arbeiten wir an diesem Vorhaben und versuchen ein solches „Familienstipendium“ in Hausach zu realisieren. Ich hoffe, dass uns das in den kommenden Jahren gelingen wird. Es ist eine Herausforderung, weil das Bewusstsein bei den meisten Geldgeber*innen oder Förderinstitutionen fehlt, dass viele Autorinnen, ja, vor allem Autorinnen, ein Stipendium nicht antreten könne, weil sie die Verantwortung für ihre Kinder tragen oder sich gar nicht erst bewerben … Die Gründe liegen, wie bereits erwähnt, auf der Hand.

„Wir hatten schon Stadtschreiber*innen, die im Garten ein Zelt für die Familie aufgestellt haben“, antwortete uns eine Kulturbehörde, als wir uns erkundigten, ob man zum Aufenthaltsstipendium mit Familie anreisen kann. Haben Sie ein Zelt für uns?
José F. A. Oliver: Immer. Wobei ich Nicht-Zelt-Lösungen vorziehe. Das Bewusstsein prägt auch die Architektur der Phantasie. Im Augenblick lebt der Amanda-Neumayer-Stipendiat des Hausacher LeseLenzes für Kinder- und Jugendliteratur in der Hausacher Stipendiat*innenwohnung, und zwar mit seiner Familie. M. ist fünf Monate alt … Tobias Steinfeld und seine Frau und das Baby sind ganz ohne Zelt hier und es funktioniert, ohne dass sie den Garten zum Schlafen benutzen müssen.

José F. A. Oliver lebt als Autor in Hausach, wo er 1998 den Hausacher LeseLenz gegründet hat, den er seitdem leitet. Der Hausacher LeseLenz vergibt jährlich auch drei Aufenthaltsstipendien.