Take Care: Bettina Wilpert & Ricarda Kiel (II)

Hallo Ricarda,

ich musste über den Neid und die Widersprüche nachdenken, von denen du schreibst, und dass keine Fehlgeburt pauschal ist. In unserem Austausch können wir hoffentlich gemeinsam Begriffe und Gedanken entwirren.

Im Internet las ich den Satz: „Giving birth is so unique, but so the same.“ Ich kann diesen Satz auf Fehlgeburten übertragen, wir beide sind ein gutes Beispiel. Du schreibst von der „zerbrochenen Unschuld“ und dass dich die Fehlgeburt nicht überraschte. Mich hat sie, als die Blutung, das Warten, die Bettruhe begann, auch nicht überrascht, nur davor, als der Schwangerschaftstest gerade frisch positiv war, trug ich diese Unschuld noch in mir und ich fuhr trotz einer ersten Blutung nach Berlin, mit diesem dummen Satz im Kopf, den auch mein Gynäkologe immer wieder sagte: Ich bin schwanger und nicht krank. Warum also sollte ich mich schonen? Ich verzichtete bereits auf den Alkohol und das Feiern in Berlin, das sollte reichen. Hinterher die Vorwürfe und die Schuld, die ich mir selbst gab.

Das ist wohl einer der Widersprüche, von denen du schreibst: Dass ich den Eindruck habe, vieles zu reflektieren und zu durchschauen, frei davon, z.B. von der Schuld, kann ich mich trotzdem nicht machen.

Ich wünsche mir, dass das Sprechen über Fehlgeburten enttabuisiert wird, dass deutlich wird, dass sie ein Teil des Lebenszyklus sind. Social Media kann für mich dabei eine Rolle zur Aufklärung spielen.

Zu den Räumen, die du ansprichst: In meinem Umfeld hatte ich unterschiedlich viel Raum für die Fehlgeburt. Den Großteil der Carearbeit übernahmen, neben meinem Partner, Freundinnen und ich wünsche mir, dass wir lernen nachzufragen und uns in Freund*innenschaften umeinander kümmern. Das erwarte ich auch von männlichen Freunden. Wie war das Kümmern und Sprechen darüber in deinem Umfeld (wenn du die Frage beantworten magst)?

Wie ich mir realistische Darstellung von Geburten in den Medien wünsche, wünsche ich mir auch realistische Darstellungen von Fehlgeburten. Eine der wenigen Beispiele, die mir einfallen, ist aus der großartigen Serie Fleabag. In der ersten Folge der zweiten Staffel hat Fleabags Schwester Claire während eines Familienessens in einem Restaurant auf der Toilette eine Fehlgeburt, geht danach zurück an den Tisch und tut so, als wäre nichts. Die Serie erhielt Lob dafür, dass die Fehlgeburt so selbstverständlich Teil der Folge war und sich nicht speziell eine Folge um das Thema drehte. Außerdem wurde hervorgehoben, dass Fehlgeburten eben ständig und überall passieren und die Betroffenen danach oft einfach weitermachen.

Genau das stieß mir auf, wahrscheinlich sollte ich jedoch von meiner Erfahrung, die ein Einschnitt war, die mich eben nicht weitermachen ließ, nicht auf andere schließen. Mich stört, dass Claire kein Raum gegeben wird, um zu trauern oder sich zu erholen, sondern dass sie weitermachen muss, ihre einzige Option ist, so zu tun, als wäre nichts, und dass nicht etwa ein Krankenwagen gerufen wird. Auch wenn wir beide wissen, dass Ärzt*innen in solch einer Situation nicht viel ausrichten können. Es sollte Raum für die Betroffene geben.
Kennst du weitere Beispiele aus der Popkultur? Und wie sehen die Räume, in denen du darüber sprechen möchtest, für dich aus?

Worüber ich gerade viel nachdenke, ist, wie Bezugspersonen eine Beziehung zu meiner Tochter aufbauen können. Meine Herkunftsfamilie wohnt weit weg und ich möchte, dass meine Tochter nicht nur uns Eltern und den Tagespapa als Bezugspersonen kennt, ich möchte ein Netzwerk. Wie schaffst du es, Teil eines Netzwerks zu sein? Und wie siehst du im Moment deine Rolle als Tante?

Hab’s gut und liebe Grüße
Bettina

 

Liebe Bettina,

danke weiterhin für deine Ehrlichkeit und Offenheit, in der wir hier die Fäden entwirren und betrachten können.

Immer mehr sehe ich den Prozess des Fehlgebärens als einen Prozess der möglichen Freiheitsgewinnung, zum Beispiel in der von dir beschriebenen Reibung zwischen Schuldgefühlen und dem Intellekt. Das schreibe ich vorsichtig, fast zaghaft, um damit nicht noch mehr Druck für Menschen aufzumachen, die vielleicht gerade vor allem trauern und einfach in Ruhe heilen wollen, die (noch) keine Kraft haben für diese Reibung. Gleichzeitig sehe ich immer mehr auch das Potential einer solchen einschneidenden Erfahrung, die uns auf uns und unsere Körper zurückwirft, in der es so eindeutig um Leben und Tod geht. Natürlich sind es die (jahrelangen) Verarbeitungen solcher Momente, die uns tiefer und mehrdimensionaler und irgendwie vollständiger machen.

Auch das schreibe ich wiederum zaghaft, denn ich will keinesfalls sagen, dass ein Mensch Erfahrungen mit dem Gebären gemacht haben muss, um tief und vollständig zu werden, das ist natürlich nur eine von endlos vielen möglichen Erfahrungen dieser Art.

Ich merke, wie ich wie auf Eierschalen schreitend schreibe, in dem Wissen, wie roh und verletzlich diese Familienthemen und die daran geknüpften Erwartungen machen, wie tief ein Gedanke zur falschen Zeit schneiden kann. Ich bin froh, dass wir trotzdem schreiben.

Die Vielzahl an unterschiedlichen Arten, eine Fehlgeburt zu erleben und zu verarbeiten, ist für mich ein ganz entscheidender Punkt. Wie ermöglichen wir diese Vielfalt wirklich, in popkulturellen Kontexten genauso wie im privaten Sprechen und Kümmern?

Denn, so wie ich dich verstanden habe, war ja zum Beispiel das Hauptproblem an der Darstellung der Fehlgeburt im Restaurant das Problem der Einstimmigkeit – diese eine Figur konnte sich dafür entscheiden, das „nebenbei“ geschehen zu lassen, diese eine Folge zeigte diesen Umgang als eine Selbstverständlichkeit, und uns fallen kaum weitere Beispiele ein, in denen überhaupt Fehlgeburten thematisiert werden.

Aber diese Themen können nur wirklich in der Vielzahl gezeigt werden, wir brauchen viel mehr Figuren, viel mehr Folgen, viel mehr Einzelheiten, viel mehr Details.

Aus dieser Überzeugung stammt auch mein Impuls, meine eigene Fehlgeburt in Tante Alles so detailliert zu beschreiben. Wir brauchen jede dieser Geschichten. Wir müssen hören, dass sich ein Mensch danach einfach wieder zu den anderen setzt, wir müssen aber auch hören, dass ein anderer Mensch zusammenbricht und dass ein anderer Mensch es zuerst locker wegsteckt und es ihn dann Jahre später wieder einholt, wir müssen von den Beziehungen und Plänen und Vorstellungen hören, die sich durch diese Erfahrung verändern. Ich will wissen, was du als erstes nach deiner Fehlgeburt gegessen hast, wie das geschmeckt hat, was dein Körper dir an dem Abend danach erzählt hat, was dein Kopf sich dazu gereimt hat, wie sich das in den Wochen danach verändert hat, ob du noch von dem Embryo träumst. Ich will das von allen wissen.

Dafür ist einerseits Social Media großartig, weil es theoretisch so vielen Menschen einen Ort gibt, an dem sie diese Geschichten erzählen können. Gleichzeitig ist es ein beschissener Ort dafür, weil die Filterblasen und die Social Media oft innewohnende Verflachung ja doch dazu neigen, einen ersten Impuls zu verstärken. Anders gefragt: Wie kann ich mich selbstbestimmt durch meinen Trauerprozess bewegen, alle Facetten und Phasen darin durchleben und mir alle Fragen erlauben, wenn in meinem Stream vor allem Menschen auftauchen, die in einer Phase steckenzubleiben scheinen?

Für mich waren die realen Gespräche in meinem Umfeld entscheidend. Ich habe ziemlich forsch diese Gespräche gesucht, bewusst mit sehr unterschiedlichen Menschen. Und ich habe mir bewusst viel Zeit gegeben, diese Gespräche zu verdauen, wirklich hin zu spüren, womit ich in Resonanz gehen kann und was in mir Widerstand auslöst, zu beobachten, wie sich das verschiebt und verändert.

Und ja, ich bin sehr bei dir, dass wir diese Gespräche auch mit cis männlichen Freunden führen können sollten. Ich habe mit meinem Bruder viel und nah sprechen können, da mein Neffe eine Woche, nachdem er auf die Welt gekommen war, gestorben ist; mein Bruder und ich also leider viel Übung mit solchen Themen haben. Weitere Gespräche mit männlichen Freunden konnte ich vor allem später über das Vehikel des Buches führen, konnte sie bitten, das Manuskript zu lesen und mit mir darüber zu sprechen – ganz frei funktionierte das tatsächlich seltener.

Du hast die sehr schöne Frage nach dem Netzwerk gestellt, wie ich es schaffe, Teil von einem zu sein und wie ich meine Tantenrollen sehe.

Als Tante meines verstorbenen Neffens besteht mein Tantensein vor allem in der Beziehung zu den Eltern, im Zeigen, dass ihr Kind nicht vergessen wird, dass sich etwas verändert hat und dass das bleibt.

Mein anderes Tantensein ist Teil einer sehr engen Freundschaft zu meiner besten Freundin und zu ihrem Kind: Ich war bei der Geburt dabei, ich habe mitgewickelt und mitgetragen, ich war die erste Person neben den biologischen Eltern, die das Kind ins Bett gebracht hat, ich überbrücke Kita-Schließzeiten, ich werde die Eingewöhnung im Kindergarten übernehmen. Allerdings wohnen wir vier Zugstunden voneinander entfernt – ich kann nicht spontan auftauchen und da sein, wenn eine:r krank wird, ich kann nicht mal nur kurz vorbei kommen. Das ist und macht mich oft traurig, während der Pandemie war es besonders kacke, und es bringt aber auch eine sehr bewusste Gestaltung mit sich. Ich bin nicht Tante, weil ich halt da bin, sondern weil wir alle das sehr bewusst so wollen. Und auch wenn ich zwischendrin immer wieder Ängste hatte, weiß ich inzwischen genau, wie stark die Bindung zwischen dem Kind und mir ist, wie belastbar die Grundlagen sind, die wir in den letzten Jahren geflochten haben.

Mein weiteres Netzwerk dagegen sieht immer anders aus, als ich mir das vorstelle, meine erweiterte Wahlfamilie wähle ich mir irgendwie nur halb, ich lade mehr oder weniger bewusst die Welt ein und sie kommt zu mir, Freund:innen, Nachbar:innen, Nachbar:innen von Freund:innen, mein ukrainischer Gast, Blutsverwandtschaft, meine Kund:innen … Ich merke, dass ich insgesamt „tantig“ geworden bin, dass ich Raum habe, Verantwortung zu übernehmen und andere zu unterstützen, und dass ich gleichzeitig froh bin, nur für mich Hauptsorgende:r zu sein.

Magst du mehr von deinen Netzwerkgedanken erzählen, wer in deiner Welt eine Rolle spielt, wen du einlädst und wer kommt?

Mich würde außerdem interessieren: Welche Rolle spielt Sprache in deinen Prozessen rund um die Verarbeitung deiner Fehlgeburt? Hast und hattest du Begriffe für diese Vorgänge parat, die für dich treffend und stimmig waren? Gibt es Begriffe, die in dir Widerstände auslösen?

Und, noch ein Punkt, den ich gerne zumindest andeuten würde, ich aber auch sehr gut verstehen kann, falls du ihn ignorieren möchtest: Hat deine Fehlgeburt etwas mit deiner Vorstellung von Weiblichkeit gemacht, was es heißt, „Frau“ oder eben auch „nicht Frau“ zu sein?

Herzlich
Ricarda