Hallo Ricarda,
letzten Herbst haben wir Manuskripte getauscht. Du hast gefragt, ob ich deinen Gedichtband Tante Alles lesen könnte, im Gegenzug lasest du meinen Roman Herumtreiberinnen.
Ich habe mich in deinem Text gefunden, weil unsere Erfahrungen sich so ähneln, nur dass meine Fehlgeburt genau ein Jahr vor deiner war, als noch keine Pandemie war; doch die Krämpfe, die Blutung, der Gang ins Krankenhaus, schließlich der Blick auf den Ultraschall, auf dem nichts zu erkennen ist, wo kurz, für ein paar Wochen, etwas gewesen ist, sind gleich.
In Tante Alles schreibst du: Ich habe gerade eine Fehlgeburt. Dieser Satz macht den Vorgang sichtbar, ich sprach nur davon, dass ich eine Fehlgeburt hatte. Doch wie eine Geburt ist eine Fehlgeburt ein langer, schmerzhafter Vorgang, in dem sich Tod und Leben für einen Moment ins Gesicht blicken.
Ich weiß noch, wie überrascht ich von der Fehlgeburt war. Deswegen war ich erleichtert, in dir eine Komplizin zu finden. Ich hatte mich so über die Schwangerschaft gefreut, dass die Möglichkeit gar nicht existierte, dass sie frühzeitig enden könnte. Ich möchte, dass mehr und offener über Fehlgeburten gesprochen wird, denn viele von uns waren schwanger, aber schwanger sein wird meist mit Kinderkriegen in Verbindung gesetzt, doch da gibt es so viel mehr.
Du hast nach der Fehlgeburt entschieden, keine Kinder zu kriegen, und ich finde bemerkenswert, wie unsere Erfahrungen da auseinandergehen. Bei mir verstärkte die Fehlgeburt den Kinderwunsch, machte ihn verzweifelter. Da war ein positiver Schwangerschaftstest gewesen, ein Ziehen in den Brüsten, ein Kind in meinem Kopf, mit einem voraussichtlichen Geburtsdatum und verschiedenen Namen. Das Kind existiert für immer in meinem Kopf, nie auf der Welt. Ich nenne es Kind, dabei war es ein Embryo. Das zweite Kind, das das erste wurde, fing am Tag unseres Gesprächs an zu krabbeln/robben.
Du hast dich gegen die Kleinfamilie entschieden. Ich wollte mich auch gern dagegen entscheiden, aber mein Kinderwunsch war so stark und die gesellschaftlichen Zustände haben es mir schwer gemacht, ihn anders zu verwirklichen. Jetzt sitze ich also mit den beiden Lieblingsmenschen in der Kleinfamilie und scheitere daran, sie aufzulösen.
Dein Begriff Tante Alles steht für mich für ein neues, weniger konservatives Familienbild. Ich würde den Begriff Mutter gern abschaffen. Ab wann darf ich mich Mutter nennen? Erst ab dem Moment, ab dem das Kind auf der Welt ist? Oder ab dem Moment, in dem ich mich mit den gesellschaftlichen Widersprüchen und Zwängen, die auf mich einprasseln, auseinandersetzen muss?
Ich würde gern sagen, ich bin Elter. Jede*r kann Elter sein, fernab von Geschlecht und biologischer Beziehung zum Kind, Elter ist eine Schnittstelle von Beziehungen, ein Netzwerk, vielleicht ein bisschen wie dein Begriff Tante Alles.
Ich könnte noch so viel mehr schreiben und komme mit den Gedanken nicht hinterher. Wie geht es dir heute? Ein halbes Jahr nach unserem Gespräch?
Ganz liebe Grüße
Bettina
P.S.: Was ist dein Pronomen und willst du lieber Ri als Ricarda genannt werden? Meine Pronomen sind sie/ihr.
Ricarda Kiel am 05.05.2022
Liebe Bettina,
„Elter“ gefällt mir, Elter, Älter, Elster. Die pickt und klaut und schackert, die ihre Nester mit allem Möglichen füllt.
Ich mag, wie du mit Worten navigierst, neue erfindest und andere abschaffen willst, so wie du den Begriff Mutter weitest und ihn testweise bei der Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Zwängen beginnen lässt.
Der Wunsch nach einer Weitung ist es auch, glaube ich, der hinter unserem gemeinsamen Wunsch steckt, öffentlicher und vielschichtiger über Fehlgeburten zu reden. Wir wollen beide die Gemeinsamkeiten der Erfahrung verknoten und die Unterschiede benennen lernen, weil das Raum gibt für die Gedanken, die man sonst vielleicht schnell wegschieben würde, weil das beim Hinspüren und Heilen hilft.
Zum Beispiel ähnelten sich unsere Fehlgeburtssituationen zwar äußerlich sehr, aber ich wurde nicht überrascht davon. Mich hätte es eher überrascht, hätte ich nach neun Monaten ein lebendes Kind auf die Welt gebracht. Das ist die zerbrochene Unschuld, von der ich in der Tante Alles auch schreibe, die vielen Erfahrungen in meinem nächsten Umfeld.
Zum Beispiel ist es seltsam heilsam für mich, von dir, die beide Erfahrungen machte, zu hören, dass eine Fehlgeburt wirklich einer Geburt ähneln kann.
Du fragst, wie es mir inzwischen geht. Ich bin neugierig auf die Widersprüche in mir. Warum ich es bei gewissen Menschen gar nicht mitbekommen möchte, dass sie schwanger sind, weil es mich seltsam anfasst und etwas auslöst, was in die Nähe von Neid gehört und doch etwas anderes ist. Warum es mir bei anderen Menschen überhaupt nichts ausmacht. Wo ich mich als Teil einer Familie fühle, und wo ich das auch wirklich will.
Die Neugier auf die Widersprüche verbindet unsere beiden Wege wieder, die sich an einer Stelle gabelten, wo sie sich kurz davor so eng trafen, denn auch meine Widersprüche sind die übrig gebliebenen Sehnsüchte. Nach dem Weitergeben von etwas in mir, nach dem Beobachten eines Lebens von Anfang an, nach dem Stricken einer ganz neuen Beziehung.
Ich habe mich nicht so sehr gegen Kleinfamilie entschieden, sondern dagegen, wie sie instrumentalisiert wird. Das Problematische der Kleinfamilie liegt ja niemals daran, dass drei Lieblingsmenschen beieinandersitzen.
Wie du auch will ich das Gefühl weiter suchen, die Sehnsucht also behalten und andere Formen dafür finden.
Nichts ist im Fall einer Fehlgeburt pauschal. Egal ob überrascht davon oder nicht: Kein Mensch kann vorher sagen, wie es ihr:ihm damit gehen wird, was für Auswirkungen das hat, welche Bedürfnisse dabei entstehen.
Wie würdest du dir deshalb wünschen, dass über Fehlgeburten gesprochen wird? In welchen Rahmen, mit welchen Verständnissen? Was für eine Rolle spielt dabei für dich ein digitaler, halb-anonymer und damit oft über-emotionaler Austausch auf Social Media?
Und ein Seitenstrang, einer von so vielen möglichen: Gibt es ein Reden über Fehlgeburten, das für dich nicht hilfreich ist? Gibt es Räume, in denen du dich nicht mit diesen Themen hineinbegeben willst?
Herzlich
Ri
PS. Ricarda passt genau so wie Ri, meine Pronomen schwanken und stoßen sich an Grenzen der deutschen Grammatik und der sozialen Umsetzbarkeit, derzeit freue mich über keine Pronomen.