Der Wasserlauf

Hallo Papa! Heute zeige ich dir den Wasserlauf!, sagt A. zu Beginn des Videos, das sie mir während einer Woche schickt, in der wir uns nicht sehen werden. Dann fängt sie an zu trinken, mit zwei Strohhalmen gleichzeitig, aus zwei vollen, großen Wassergläsern. Sie trinkt und trinkt, anfangs mit großer Begeisterung, später mit zunehmender Verzweiflung, schließlich kämpft sie damit, dass sie sich wahrscheinlich doch zu viel vorgenommen hat. Woher sie das Wort „Wasserlauf“ hat, weiß ich nicht, und was das, was sie da tut, mit einem Lauf zu tun hat, kann ich mir auch nicht erklären. Aber „Wasserlauf“ wird für die nächsten Tage ein kleines Lieblingswort von mir, und auch wenn ich sie für ihre Bauchschmerzen und Übelkeit bedaure, die sich schon am Ende des Videos zeigen, trage ich ihren Mut und ihre Verwegenheit in dieser Woche mit mir herum und bin ihr sehr dankbar dafür, dass sie diesen Anflug kindlichen Wahnsinns ausgerechnet mit mir teilen wollte.

In der Höhle der Tierärztin

Ich schaue immer häufiger zu der Uhr, die über dem Durchgang zu den Duschen hängt. Bis zur Essenszeit müssen wir noch fast eine halbe Stunde rumkriegen. A. strampelt sich durchs Wasser, sie versucht, die kleine Höhle zu erreichen, die sich unter dem Aufgang zur breiten Kinderrutsche befindet. Diese Höhle ist unser Zuhause und manchmal auch die Tierarztpraxis. Ich bin noch nicht sicher, ob wir gerade auf dem Heimweg sind oder mit einem Tier auf dem Weg zur Praxis, ich bin auch noch nicht sicher, wer von uns beiden jetzt die Tierärztin ist und ob wir gerade einen Frosch dabeihaben oder vielleicht eine Katze. Das Spiel macht mich müde, ich verliere manchmal den Faden, denn es passiert ja immer nur das: Wir sind zu Hause, wir müssen zur Tierärztin oder zum Tierarzt, wir müssen zurück nach Hause, wir müssen uns um den Frosch kümmern oder die Katze; zwischendurch fängt es immer mal wieder an zu regnen, darum müssen wir uns, wenn wir draußen sind, besonders beeilen. A. wirkt auch nicht so, als würde ihr das Spiel wirklich Spaß machen, aber alle Alternativvorschläge hat sie bislang abgelehnt: Die Rutsche gefällt ihr nicht, die Gegenstromanlage macht ihr Angst, für das Kleinkinderbecken ist sie noch nicht zu groß, aber doch schon zu wild, und vom Rand springen darf man hier sowieso nicht.
Irgendetwas habe ich nicht mitbekommen, A. wird wütend, sie sagt: Nein, du sollst doch das-und-das machen.
Mein Kopf schwirrt, wir spielen das jetzt bestimmt schon eine Stunde, und da reicht es mir und ich frage: Sag mal, meine Kleine, ist dir eigentlich langweilig?
Ein bisschen, sagt sie.
Ich muss lachen, A. schaut beleidigt.
Ich lache dich nicht aus, sage ich, ich finde nur lustig, dass uns beiden langweilig ist; was macht man denn, wenn einem langweilig ist?
Man geht auf ein Abenteuer, sagt A.
Ein Abenteuer, na gut, sage ich und überlege. Schau mal, da hinten ist noch eine große Rutsche, sollen wir uns die mal zusammen anschauen?
Hmm, nein, sagt sie und schaut weg.
Die ist wie ein langer Tunnel, sage ich, der geht ganz tief runter, in einen Berg, in einen Vulkan vielleicht, den können wir zusammen erforschen, da kannst du auch bei mir auf dem Schoß mitrutschen, und dann klettern wir den Berg wieder hoch, ich bin mal gespannt, welche Tiere wir da so treffen, sollen wir das mal probieren?
Jaaa, sagt sie, lacht und klammert sich an mir fest.
Ich gehe mit ihr durchs Becken zur Treppe und dann hoch zur Rutsche und bin froh, endlich dieser zermürbenden Endlosgeschichte um Frösche und Tierärztinnen entkommen zu sein. Ich hätte natürlich schon ahnen können, dass ich hier bloß eine Endlosgeschichte mit Fröschen gegen eine andere tausche. Immerhin sind es dieses Mal Vulkanfrösche.

Sterne und Schneebälle

Papa, sag einen Quatschsatz.
Hmm.
Saa-haag.
Der Ziegelstein fliegt ins Grüne.
Noch einen!
Erst du.
Eine Sonnenblume ist vielleicht ein Ei.
Hmm. Immer ist seltener als gestern.
Hä? Was soll das denn heißen?
Ist halt ein Quatschsatz.
Ja, aber das ist ein komischer Quatschsatz.
Wenn Quatsch kommt, gibt es roten Regen.
Wenn Quatsch kommt, hat die Frau einen Regenschirm. Auf dem Kopf. Und einen auf dem Bauch.
Hmm.
Noch einen!
Puh, ich hab keine Ideen mehr.
Die große Ente isst keine Ziegelsteine.
Nein? Aber Ziegelsteine sind doch so lecker.
Ja, trotzdem! Ähm. Der Mond ist groß und dick und blau.
Der Mond ist eckig und hat Fenster und friert.
Der Mond wirft Sterne als Schneebälle in die Gesichter von Menschen.
Oh.
Was?
Das ist ein richtig schöner Satz.
Ein schöner Quatschsatz?
Ein sehr schöner Quatschsatz. Warte, ich schreib den mal auf.
Hä? Warum das denn, Papa?
Damit ich ihn nicht vergesse.

Das Warum mit den schrecklichen Klauen

Zu wenigen Kinderbüchern hat A. ein so intensives Verhältnis wie zum Grüffelo. Ganz lange durfte der nicht mal irgendwo sichtbar herumliegen, das war ihr schon zu gruselig. Dann irgendwann, als ich ihn ihr, ganz vorsichtig natürlich, zum ersten Mal seit Monaten wieder vorgelesen hatte, war er plötzlich gar nicht mehr wegzudenken aus ihrem Geschichtenreservoir. Und immer wenn uns jemand besuchen kam, musste die oder der natürlich gleich einmal mit A. den Grüffelo lesen. Eines Tages kommt A. auf die Idee, dass das Buch noch weitergehen müsse. Sie möchte [Spoilerwarnung], dass der Grüffelo, nachdem er die Flucht vor der Maus ergriffen hat, noch einmal zurückkommt und dann tatsächlich von der Maus gefressen wird. Erst denke ich, A. würde die Vorstellung lustig finden, dass die winzige Maus den riesigen Grüffelo runterschluckt, aber A. sieht nicht sehr belustigt aus, als ich das neue, blutrünstige Ende vortrage. Dann frage ich sie: Ist das, weil du Angst vorm Grüffelo hast? Nein, Papa, das ist doch nur ein Buch, sagt sie. Warum frisst die Maus denn den Grüffelo, frage ich. A. guckt im Zimmer herum, dann sagt sie etwas verärgert: Einfach so, Papa. Dann steht sie auf und geht zum Maltisch, und ich ärgere mich über mich selbst und nehme mir vor, mich häufiger daran zu erinnern, dass ‚Warum?‘ für manche Geschichten eine blöde Frage ist.