Regen

Man konnte das nicht essen nennen. Kay löste ein paar Krümel in Speichel auf, das war alles. Wenn es so weiter ging, würde sie sich eines Tages in Luft auflösen, so dünn war sie. Und wenn sie einmal ernsthaft krank würde, Influenza zum Beispiel – ein, zwei Tage, dann würde man sie künstlich ernähren müssen.
Draußen regnete es. Peters Tag war nicht gut gewesen. Auch die letzten Lesungen waren jetzt abgesagt worden. Der Verlust ging in die Tausende.
„Iss“, sagte Peter.
„Papa?“, sagte Kay.
„Nimm jetzt das Brot und beiß rein, verdammt!“ Peter schob den Teller näher an sie heran. Sie benutzte immer noch ihren Stufenstuhl, obwohl sie, mit Unterlage zumindest, längst auf einem normalen Stuhl hätte sitzen können.
Christine sagte, das seien die Rituale. Kinder brauchten ihre Rituale. Sie hielten an allem fest, solange es ging. Das mochte sein, aber sie vergaßen auch herzlos schnell. Peter hatte Kay heulen sehen wie ein Schlosshund, als sie ihre Lieblingspuppe Juliane verlor. Als drei Tage später noch einmal die Rede von ihr war, konnte Kay sich kaum an sie erinnern.
Kay schob den Teller von sich weg, schaute zur Decke und sagte: „Es regnete und ein schöner Abend floss durch die Wohnung.“
Peter sah sie an. „Wie bitte?“, fragte er.
Kay beugte sich vor, nahm das Leberwurstbrot vom Teller, drehte es in der Hand und musterte es von allen Seiten.
„Was hast du gerade gesagt?“, fragte Peter.
„Ich hab Pippikackapups gesagt“, sagte Kay.
„Hey, nicht am Tisch!“, rief Christine aus dem Wohnzimmer.
„Nein“, sagte Peter, „du hast ‚Es regnete und ein schöner Abend floss durch die Wohnung‘ gesagt! Wo hast du das her? Aus der Kita?“
Kay ließ die Schnitte los. Sie fiel und landete mit dem Wurstbelag zuunterst auf dem Teller.
„Mensch!“, sagte Peter und drehte die Schnitte um.
„Darf ich aufstehen?“
„Nein! – Stopp! – Hiergeblieben!“ Aber sie war seiner Hand ausgewichen und ins Wohnzimmer entkommen.
Peter griff nach dem Block. Das musste er notieren. Für Kay, für später. Damit sie eines Tages lesen könnte, was sie gesagt hatte. Aber er wollte es auch seinem Kumpel Frank erzählen, der auch Vater war. Und seiner Schwester, Kays Patentante.
Aber das war nicht alles.