Ich sitze starr und nutzlos im Atelier. Ich bin wieder eine Stunde später als geplant angekommen, da mein Sohn mich nicht gehen lassen wollte. Ich habe viel Arbeit – eigene Texte, Übersetzungen, Aufträge – und leite jeden Nachmittag einen Schreib-Workshop mit Geflüchteten. Mein Sohn hat zwei Tagesmütter, die sich normalerweise im Laufe der Woche abwechseln. Die beiden werden von einer grossen ehrenamtlichen Organisation eingestellt. Nach der Coronakrise hat jene aber, aufgrund der plötzlichen Reduzierung der Fördermittel, beschlossen ihren Betreuungsdienst einzustellen. Ein Drittel der Mitarbeiterinnen wird arbeitslos, die anderen sollen von einer Partnerorganisation übernommen werden. Beim Betreuungsdienst herrscht unsagbares Chaos, manche Mitarbeiterinnen haben gekündigt, die meisten müssen vor der Schließung noch ihre Ferientage beziehen. Also wird jeden Tag eine andere Tagesmutter zu meinem Sohn geschickt. Er weigert sich, sich jeden Tag auf eine neue Person einzulassen. Ich verstehe ihn nur zu gut. Also beschwere ich mich. Ich sage, es sei nicht annehmbar, dass mein Sohn für die Streichung der Fördermittel zahlen müsse. Ich sage, es sei eine Geiselnahme. Ich sage, mein Sohn könne nichts für die Coronakrise. Es sei nicht seine Schuld und es sei nicht meine Schuld. Die Frau vom Betreuungsdienst sagt, es tue ihr leid. Auch sie würde meinen Sohn und mich sehr gut verstehen. Ändern liesse sich allerdings an der Situation nichts. Also beschliesse ich, die Vormittage mit meinem Sohn zu verbringen. Bevor ich zu den Workshops aufbreche, werde ich zwei Stunden Zeit haben, das sollte reichen. Als die Tagesmutter um 13 Uhr zu uns kommt, ist die Trennungsangst bei meinem Sohn grösser als je zuvor. Sobald er die Möglichkeit erahnt, ich könnte ohne ihn das Haus verlassen, wirft er sich mit weit geöffneten Armen brüllend gegen meinen Körper. Wir umarmen uns lange. Ich versuche mich zu verabschieden, er klammert sich und weint. Als ich nach einer halben Stunde trotzdem gehe, starrt er mich mit entsetzten Augen an. Zu sagen, dass ich mich schuldig fühle, wäre ein Euphemismus. Als ich im Atelier ankomme, habe ich kaum Zeit und dezidiert null Energie, meine Arbeit anzupacken. Ich schreibe nicht, schon lange nicht mehr. Ich kann nicht schreiben, weil Körper und Geist so von ihm eingenommen sind, dass ich den nötigen Raum zum Schreiben nicht finde. Nicht in zwei Stunden Zeit, nicht in vier Stunden Zeit, oftmals nicht in acht Stunden Zeit. Ich brauche Tage, Wochen, in denen ich vergesse, dass ich ein Kind habe. Eine Residenz ohne Schuldgefühle.