Überfahrt

Unsere Wohnung lag in einem etwas heruntergekommenen ehemaligen Schlossverwaltungsgebäude, in dem fast niemand mehr wohnte. Wir nahmen die mit Ikeamöbeln, Klavier, Kronleuchtern und glänzenden, vier Meter langen Vorhängen mit Quasten ausgestattete Wohnung von der Vermieterin entgegen, die, während sie sich wortreich über die Beschaffung eines Kinderbettes Sorgen machte, die ausgespuckte Milch des Kindes vom Boden aufwischte. Bald besorgten wir gebraucht: ein Kinderbett, einen Kinderhochstuhl, zwei Kinderbadewannen, eine Wickelkommode. Ich organisierte die Übergabetermine für die Kindermöbel, und mein Mann – ich lernte beim Telefonieren von „meinem Mann“ zu sprechen, das schaffte Vertrauen – transportierte sie zu Fuß, per Bus, Metro und Vorortszug in die Puschkiner Wohnung. Der Umzug mit Baby nach Puschkin entfernte mich mit einem Mal von allem, was bis dahin Bedeutung für mich gehabt hatte. Bisher hatte ich bei Reisen nach Russland: studiert, ich war bei Kulturveranstaltungen, auf Demonstrationen, in Zügen, bei neuen Bekannten zu Hause. Ich hatte mich treiben lassen, war durch Moskauer Vorstädte flaniert, hatte auf Märkten eingekauft und geplaudert, hatte auf Bergen gezeltet, mich mit dem stalinistischen Lagersystem und sowjetischer Siedlungspolitik befasst. Jetzt wurde das Leben konzentrisch. Der Säugling brauchte mich als Stillerin, seine zarte Haut wollte gestreichelt werden, er wollte plaudern und dabei meinen Mund und meine Augen auf sich gerichtet wissen. Ich lief immer die gleichen Wege durch die Puschkiner Parks, ging auf dem Markt einkaufen, ging zum Yoga mit Baby. Dabei immer beschwert und eilig, beschwert durch das Kind am Körper oder im sperrigen Kinderwagen, eilig, weil das Kind bei Laufschritt am tiefsten schlief. Mit jedem Tag wuchsen Bewegungsdrang und Neugier des Kindes und mein Körper war psychisch und physisch davon beansprucht, es davon abzuhalten, alles abzuschlecken, alles vollzuschmieren, alles auszuräumen. Ich musste mich daran gewöhnen, ständig zu schwitzen: wenn ich auf einer Zugtoilette ohne Wickeltisch oder bei Tauwetter irgendwo draußen das Kind wickeln musste, wenn ich im Bus die kräftige Stimme des schreienden Kindes bändigen wollte, wenn ich ohne das Kind zu einem Termin in das Petersburger Zentrum fuhr, aber zum abendlichen Stillen wieder zu Hause sein musste. Durch diesen neuen Einsatz meines Körpers begriff ich, wie sehr das Kind mich ganz körperlich veränderte und als nicht neutral markierte. Dieses Begreifen, und es gefällt mir in diesem Zusammenhang, wie haptisch und materiell das Wort ist, geschah erst während dieser Monate, in denen das Kind immer agiler wurde. Der Umzug nach Puschkin war zu einem Rückzug geworden. Für diesen Rückzug und die Mühe, die er mich kostete, schämte ich mich insgeheim. Wenn mein Partner den Säugling für einen langen Spaziergang übernahm, während der Schläfchen tagsüber und abends, schrieb ich unter großer Anstrengung meine Masterarbeit zu Ende. Zu Veranstaltungen oder Demos konnte ich nicht gehen, ich konnte nichts schreiben, kaum Kontakte pflegen, selten telefonieren, nicht durch soziale Netzwerke streifen. Mein Partner und ich wurden zu einem unzertrennlichen Arbeitsteam. Wer ohne Kind war, eilte und hatte ein schlechtes Gewissen. Ich hatte das Gefühl zu verschwinden, als eigenständige Frau, als schreibende, politisch und intellektuell aktive Person.