Take Care: Andrea Karimé & Barbara Peveling (I)

Liebe Andrea,

„Die Scham ein Mädchen zu sein“, dieser Satz von Dir aus Deinem erzählerischen Essay „Granatapfellicht. Scham Rasse Geschlecht. Das goldene Kamel“ ist mir in Erinnerung geblieben. Eigentlich habe ich es auch so empfunden habe, als zweitgeborenes Mädchen, dass meinem Vater der Sohn fehlte. In der westdeutschen Provinz der 80er war es schon in Ordnung, als Erstgeborenes ein Mädchen zu haben, aber das zweite oder auch dritte sollte dann doch bitte ein Junge sein. Denn ein männlicher Nachkomme zeugt von Virilität, ein Mädchen hingegen nur von Schwäche, Kontrollverlust. Und so habe ich mir als Kind große Mühe gegeben, der Junge in der Familie zu sein: Ich war wild, unbändig, widerspenstig und laut. Später habe ich mein Verhalten in der Kindheit oft als Feminismus interpretiert, weil ich so gerne Robin Hood spielte, mit mir selbst in der Hauptrolle. Aber das war eine Fehlinterpretation, es war nur eine weitere Form der Anpassung, um diese eine soziale Rolle zu bedienen, die in unserer Familie eine Leerstelle war und die ich zu füllen mich bemühte, indem ich gesellschaftliche Klischees bediente: ein Junge zu sein, laut und wild.
Oder auch: Die Schuld der Scham. Der Gedanke ist sehr naiv, aber er ist hartnäckig. Du kennst ihn vielleicht, „Sohn ihres Vaters“, und ich möchte ihn noch einmal allgemeiner formulieren: Wäre die Distanz zum Vater zu überwinden gewesen, wenn ich mit einem biologischen Körper geboren worden wäre, der, wie der seine, männliche Geschlechtsmerkmale trug? Denn schließlich blieb ich, was ich war: Nur-ein-Mädchen. Und der Kontrollverlust meines Erzeugers nahm seinen Lauf, schleichend und schnell etablierten sich Gewaltstrukturen in der Familie, mit denen ich bis heute zu kämpfen habe, aber damit bin ich als Frau ja nicht allein.
Bei unserer Hochzeit hat meine libanesische Schwiegermutter immer wieder Segenssprüche gerufen, auf Arabisch selbstverständlich, dass sie mir, genau mir, nicht ihrem Sohn, denn der hatte bereits zwei Söhne und ich nur eine Tochter, also eben mir, einen Sohn wünschte. Meine Mutter hat ihr das übelgenommen. Ich dachte immer, diese Schwiegermutter passte eben nicht in unsere Welt. Sie konnte nicht lesen, es hatte nie jemand für wichtig befunden, ihr das beizubringen. Schließlich steckte auch sie „nur“ in einem weiblichen Körper. Das Schicksal hat sie hinweggerissen, die Geburt unserer Söhne hat sie nicht mehr erleben können. Dramatisch, denn es war ein einfacher Behandlungsfehler, zurückzuführen auf die schwierige politische Situation im Libanon, der Mangel an medizinischer Versorgung, der sie bei der endotrachealen Intubation ersticken ließ. Heute glaube ich, dass die Wut meiner Mutter auch das Gefühl des eigenen Mangels war. Aus der Scham ein Mädchen zu sein, wird die Schuld, keinen Sohn zu gebären. Die Scham ein Mädchen zu sein, die Scham nur Mutter von Mädchen oder die Scham Mutter ohne Kind. Die Mutterschaft macht mich oft sehr einsam, ich würde sie gerne abgeben, manchmal begegnet mir auch ein junger Mensch und ich spüre diese Nähe, diese Seelenverwandtschaft, wie man sagt, und frage mich, warum kann ich nicht seine Mutter sein, oder anders: Lässt sich Mutterschaft nicht teilen, muss sie immer so exklusiv sein? Das macht mich wütend!
Ich verabschiede mich, erst mal mit diesem Blick ins Offene.

Liebe Grüße
Barbara

 

Liebe Barbara,

während ich das schreibe, sitze ich auf der Insel Sylt fest, auf der ich Urlaub mache, nun aber abreisen will. Tief Zeynep bringt Orkanböen und behindert die Zugfahrt bis Hamburg. Behindert meine Heimreise. Für mich ist das a big deal. Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind mehrfach einen Flieger von Beirut nach Frankfurt verpasst habe. Zum Beispiel, weil die enge Küstenstraße von Tripoli bis Beirut verstopft war und wir den Flughafen zu spät erreichten.
Und dann, 1975, war Krieg. Ich war 12, wieder zu einem Ferienaufenthalt im Haus meiner libanesischen Großeltern. Diesmal ohne Mutter, das erste Mal. Und dann kam der Krieg. Und mit ihm Nächte voller Schüsse, Beben und Fürchten. Wir wollten nach Hause fliegen, aber der Flughafen war gesperrt. Da die Lage zwischen meinen Eltern sehr angespannt war und Scheidung im Raum stand, brach in mir immer mehr Angst aus – was, wenn wir gar nicht mehr nach Deutschland zu meiner Mutter kommen? Was, wenn wir alle sterben?
Die Angst nicht nach Hause zu können bleibt, nachdem sie einmal eingezogen ist, für immer in deinen Knochen, wenn ihre Stimme auch allmählich leiser wird.
Also schreibe ich diesen Brief in einer Situation, in der ich mich darauf konzentrieren muss, dass ich in Deutschland bin, es hier keinen Krieg gibt, ich kein Kind mehr bin, das nicht nach Hause kommt. Und unterdessen zupft mein Vogel im Kopf einen Faden aus deinem Brief und knüpft nach und nach ein neues, eigenes Bild damit.
Mein deutscher Opa hatte NURMÄDCHEN und zwar fünf. Oft war davon die Rede, wie sehr er zu bemitleiden war. Ich denke daran, wie ich neben ihm auf dem Sofa saß, er war ein schmächtiger stiller Mann, der sich sehr oft räusperte. Er zeichnete mit Tuschestiften auf einem unendlichen Blatt, zwischen zwei fetten Papierrollen, und dieses Geräusch spann ein Klangkokon um ihn und mich. Ich spürte die warme Seite meines Opas, der auch „anders“ war. Der „andere“ in der Frauenfamilie. Ich: eins der „Nurmädchen“, auch meine Mutter hatte NURMÄDCHEN; ich unterschied mich also deutlich von Opa, aber ich war eben auch das andere „dunkle Kind“, und das war nichts Gutes.  („Gott, ist das Kind dunkel!“ Omaseufzer. Mitleidige Tantenblicke.) So saß also das „andere“ dunkle „Nurmädchen“ neben dem „anderen“ Opa, der seit der Rückkehr aus dem Krieg nur noch wenig sprach und meistens der einzige Mann an Bord der großen weißen temperamentvollen sprachlauten Tantenfamilie war. Wir beide hatten eine gemeinsame Leitung in die Stille auf diesem Sofa, schon als mich Opa zwischen Pappeln an einem kleinen Flüsschen in Nordhessen im Kinderwagen spazieren fuhr. Schweigend, obwohl ich eigentlich sehr früh sprechen konnte „wie der Deibel“. (So meine deutsche Oma. Noch so eine Zuschreibung. Dunkler Deibel.) Laufen konnte ich noch nicht. Egal was veranstaltet wurde, ich blieb sitzen oder wollte getragen werden. Unbeeindruckt liebevoll packte Opa mich immer wieder in den Wagen und sagte: „Du hast recht! Du läufst noch dein ganzes Leben“, und ein tiefer Seufzer transportierte Jahre beschwerlichsten Laufens, Frierens, Hungerns in diesen Satz.
Während ich das alles schreibe, breitet sich eine glitzernde Ruhe in mir aus. Und ich denke an das, was Simone Scharbert mir neulich schrieb. „Sprache und Literatur sind doch immer wieder ein großer Rettungsanker oder in den Worten von Yoko Tawada: welche ‚Heimat‘ kann sicherer sein als die Literatur?“
Wäre ein wundervoller Schluss, wenn nicht dieses eine hartnäckige Satzküken aus deinem Brief geschlüpft wäre:
Hätte mein Vater mir seine Sprache nicht verschwiegen, wenn ich ein Junge geworden wäre?
Aber davon, liebe Freundin, erzähl ich dir das nächste Mal.

Andrea