Other Writers trifft Café Entropy: Sandra Gugić im Café Strauss, Berlin

Foto: Alain Barbero | Blog Café Entropy

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Wien gelebt. Und wenn ich heute, fern meiner hassgeliebten Stadt, etwas vermisse, sind es die alten Wiener Cafés. Das Café war immer der Ort, an dem ich am besten nachdenken konnte, für mich allein und doch unter Menschen, eingebettet in geschäftiges Hintergrundrauschen. Kinder sind dort eigentlich nicht vorgesehen, wenn, dann als geduldete Ausnahme. Auch in meinem Leben habe ich ein Kind lange nicht vorgesehen, das haben wir gemeinsam entschieden, bis zu einem gewissen Punkt, an dem ich mich anders entschieden habe. Nur die Möglichkeit von Veränderung und Offenheit ist das, was Menschen wach und lebendig hält, oder? Auch Kaffeehauskultur verändert sich, ich erinnere mich an das Kussverbot im Wiener Café Prückel und dessen kollektiver Verweigerung – als zwei lesbische Frauen des Cafés verwiesen wurden, gab eine Demo aus küssenden Paaren, Queers und Allies, eine eindeutige Antwort. Das Café also auch als eine Bastion des Spießertums und Touristenpilgerstätte? Wem gehören die Kaffeehäuser? Welche Regeln sollen dort gelten? Und wie ist das mit der Moral? Und mit den Kindern? Der Sänger Georg Danzer lässt einen Flitzer im Wiener Traditionscafé Hawelka Platz nehmen und singt: „Mach ma hoit a Ausnahm’ / Sei ma heut net grausam / Weu ein Pro-Milieu-Lokal / Scheißt auf Spießbürgermoral / Jö schau, so a Sau, Jössas na / Wos macht a Nackerter im Hawelka?“
Das Kaffeehaus gehört der Literatur, den Schreibenden, das Kaffeehaus lebt von Geschichten. Wenn mein Kleinkind mit mir am Tisch im Café sitzt, kann ich nicht sagen, was im nächsten Augenblick passieren wird. Wird es sich mit großen Augen umschauen, beobachten und schweigen, wird es alles kommentieren, fragen oder singen, wird es verschwörerisch mit dem Zuckerstreuer flüstern? Wird das Kind einen Stift verlangen, eine Serviette und etwas kritzeln, das ein Wort sein könnte, ein Anfang.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich, seit du ein Kind hast?
Sandra Gugić: Das Café ist für mich vorrangig ein analoger Arbeitsort, an den ich Ausdrucke oder Notizblock mitbringe, nur ganz selten meinen Laptop. Seit ich Mutter bin, ist meine Kaffeehauszeit nicht mehr Alltag, sondern mehr Ausnahme geworden. Jedes Zeitfenster allein ist kostbar.

Wie verändert es deine Café-Zeit, wenn dein Kind dabei ist?
Sandra Gugić: Mit meinem Kind bin ich selten im Café, und wenn doch, sprechen wir uns vorher ab, ob es gerade passt. Wenn ja, kann es ein großer gemeinsamer Spaß sein, der, wie alle Kind-Momente oder kindlichen Gefühle, auch schnell ins Drama kippen kann. Aber ist nicht gerade das Café eigentlich ein guter Ort für ein gepflegtes Drama? Es braucht auf jeden Fall Gelassenheit, Kinder zu haben, und erst recht, sie mit ins Café zu nehmen.

Eine Kooperation mit Café Entropy – Literatur- und Fotoblog.

naming shaming blaming bitching moaning

naming shaming blaming bitching moaning wir bitten um verständnis das
blaming wurde zu lange zurückgehalten zu diesem naming können sie nicht mehr
bearbeitet werden shaming ist verjährt fakten hin tatbestand her keine
hetzjagd gar hexenjagd eröffnen bitching sind hier eindeutig in die subjektivitäts-oder beschwerdefalle getappt moaning man hätte zu einem anderen früheren
besseren blaming stattdessen aufbegehren können was für naming angenehmer
darüber hinaus auch eindeutig heroischer gewesen wäre wir nehmen an dass
niemand shaming als passiv oder gar machtlos angesehen werden will außerdem
können wir zum gegebenen blaming nicht davon ausgehen dass sich die linien
verschieben oder gar strukturen dauerhaft verändern die uns heute hier vorliegenden
bitching and moaning zu den akten gelegt diesmal nicht ohne weiteres noch bis auf
weiteres zur geneigten kenntnis
dass keine ordnung bleibt

(Auszug aus „Protokolle der Gegenwart“, Verlagshaus Berlin, 2019)

von schreien zu schreiben

feuchtigkeit zwischen den beinen splitterbruch im kleinen finger
mit dem man erledigt was keines aufhebens wert diese liebe steht
und fällt in pastellerwartungshaltungen verstärkt farbgebung die stimmung
im handlungsbogen darf ich sprechen oder schweigen der unterschied
verwäscht perpetua mobilia schwimmende farbwechsel
von schreien zu schreiben ich als chamäleontarnfarbener geheimtipp
den es noch zu entdecken gilt ich im trainingsanzug beim waldlauf mit anspruch
auf vollständigkeit unversehrtheit den zeitgeist im nacken ich als piktogramm
handlungsanweisung haustierfrau nicht auf gedanken ideen kommen
es könne anders sein als muttermuttertier ich als bezaubernde
vermeidungsstrategie ich mit dem selbstbewusstsein einer assgebleachten
königin ich als spitze der gesellschaft ich als brutales ödland
ich als penetration in malerischer labiamajoralandschaft lebensgroß
als versöhnung als gefahr oder kontrollparadigma ich als geschichte in der
geschichte ich als weiß der popupinupschablone ich als aktuelle generation
ich als final girl ich als position einer vielseitigen leerstelle
ich als vorstellung vom rande europas
ich als momentaufnahme im augenwinkel
ich als geräusch
von schreien zu schreiben

(Auszug aus „Protokolle der Gegenwart“, Verlagshaus Berlin, 2019)

Wir sitzen hier …

… drinnen fest. Das Kind steht in diesen Tagen gern am Fenster und ruft den vorbeiziehenden Vögeln kah! kah! hinterher, zeigt auf Menschen, Fahrräder, den DHL-Transporter und ich blicke neidisch zu den Balkonen gegenüber und denke: Jetzt sind wir alle noch mehr in unserer Blase. Einraumwohnung, Zweiraumwohnung, Dachterrasse. Soundsoviel Tage Kontaktbeschränkung, die für mich bedeuten, dass die Kita-Eingewöhnung auf unbestimmte Zukunft verschoben ist, nachdem ich mangels Platz ohnehin schon viele Monate Kind und Arbeit jonglieren musste. Also geht es weiter wie gehabt: Arbeiten in Nachtschichten, Wochenendschichten, tagsüber für das Kind da sein. Die letzten Nächte habe ich in meinem Arbeitszimmer geschlafen, um etwas Abstand zu haben und in der Stille nach dem Schreiben durchatmen zu können. Früh morgens weckt mich der Geruch von Kaffee, mein Partner und das Kind spielen in der Küche. Jede zweite Woche darf er ins Homeoffice, was meine Situation nur minimal verbessert, da natürlich trotzdem gearbeitet werden muss. Ich wundere mich über all die Menschen, die derzeit online über ihre Langeweile jammern. Wie oft habe ich in den letzten Monaten gedacht: Ich schaffe das nicht mehr, habe geweint vor Erschöpfung und Zorn. Trotzdem bin ich immer wieder aufgestanden, habe weitergemacht, weitergeschrieben. Mein Manuskript ist so gut wie druckfertig, der Herbst-Erscheinungstermin für den Roman steht immer noch. Was dann sein wird, kann zu diesem Zeitpunkt niemand sicher sagen: Wie viele europäische Staaten werden dann zu Diktaturen geworden sein, wo wird es Ausschreitungen gegeben haben, was wird mit den Geflüchteten in den Camps geschehen? Wie viele Menschen werden sterben? In Deutschland? In Europa? In der Welt?
Wir sind privilegiert. Manche Kolleg_innen empören sich in den sozialen Netzwerken über ein System, das zumindest versucht, die Kultur- und Kunstschaffenden ökonomisch aufzufangen, wovon Kultur- und Kunstschaffende in anderen Ländern nicht einmal träumen dürfen. Ja, Deutschland ist ein reiches Land. Und trotzdem ist es nicht selbstverständlich.
Noch weiß ich nicht, wie es die nächsten Monate finanziell aussehen wird, durch die unfreiwillige Elternzeit-Verlängerung habe ich davor schon weniger als geplant verdient, aber ich bin schon so lange selbstständig, dass ich den Zustand der Unsicherheit gewohnt bin. Ich arbeite weiter an meinen Projekten und halte meinen Optimismus hoch, so gut geht.
Ich bin zornig in diesen Tagen. Dieser Ausnahmezustand zeigt einmal mehr, dass es letztlich immer Frauen und Mütter sind, die für Care-Arbeit zuständig gemacht werden, weil unsere Gesellschaft nicht emanzipiert genug ist, entstehende Versorgungslücken gleichberechtigt zu schließen.
Dennoch ist da mein freundlicher Mikrokosmos, der mich milder stimmt. Ich bin dankbar für meine kleine Familie, für meine Zähigkeit, für die Freund_innen, mit denen ich mich abends online treffe, ihre so unterschiedlichen Gesichter, Leben und Wohnzimmer auf meinem Bildschirm im Splitscreenmodus versammelt.
Wir sitzen hier drinnen fest. Unsere Gesellschaft kann aus diesem Ausnahmezustand lernen. Viele von uns haben das Privileg, das Beste daraus machen zu können.