Lieber Lorenz …

… der Sturm ist da und mit ihm die Interpretationen. Wie gern der Mensch doch alles ins Gute wachsen sehen möchte. Auch ich wünsche mir das.
Mein Gedanke ist, dass unsere Briefe jetzt wichtig werden. Du kannst nicht nach Pohle kommen, ich nicht nach Berlin, aber unsere Stimmen können sich begegnen. Und wer weiß, vielleicht führt das dazu, dass unseren Worten ein neuer Wert zukommt. Jedenfalls habe ich Lust, dir zu beschreiben, was ich in diesen Tagen hier erlebe.
Jeder Text braucht eine spezifische Form der Annäherung, und innerhalb eines langen Textes, sagen wir ruhig Roman dazu, kann sich diese Form der Annäherung ändern. Dieses schwer zähmbare Ding, du weißt schon, das im letzten Jahr schon auf dem Müll lag, wie habe ich es gehasst …, ich hab’s wieder raus geholt und bezwinge es jetzt. Ein großes Stück ist schon geschrieben, es gibt einen Zeitsprung, und jetzt setzt der Text neu an, in der Natur, im Zyklischen. Um diesen letzten Teil schreiben zu können, muss ich vor dem Schreiben gehen. Jeden Tag mache ich einen langen Spaziergang über den Hügel, am Fluss entlang, durch den Wald, zwischen den Feldern zurück zu meinem Schreibhaus. Ach so: und ich hinke! Ja, ich befinde mich in einer Phase der Unfälle. Mit der Axt auf den Finger, im Schnee das Knie verdreht, und neulich ist mir eine schwere Glasschüssel auf den Fuß gefallen. Ach so: und mein MacBook ist auch kaputt. Die Maschine geht wohl noch, aber das Display bleibt schwarz. Black Retina. Also schreibe ich auf meiner alten IBM-Schreibmaschine. Ich klappe das Ding in meinem Schreibhaus auf, und dann schreibe ich. Ein, zwei Seiten. Mal gequält, mal berauscht. Alles wie immer. Danach übe ich noch ein paar Asanas, und dann ist meine Zeit rum. Ich treffe mich mit Frank und den Kindern zum Mittagessen. Nachmittags kümmere ich mich um die Kinder. Diese Aufgabe definiert sich gerade völlig um. Denn die Kinder sind die meiste Zeit des Nachmittags weg. Sie fahren Fahrrad, rüber zum Nachbarhof oder ein Haus weiter zu den Monkiewicz-Brüdern. Ab und zu sehe ich einen von ihnen auf einem Trecker an unserem Haus vorbeifahren. Kinder aus der Nachbarschaft kommen zu Besuch und helfen mir beim Radieschensäen. Erst wenn die Glocke schlägt, kommen meine Kinder zurück mit neuen Wunden und neuen Ideen. Seit gestern steht im Garten eine Badewanne. Frank hat ein Feuer darunter gemacht und in der Dämmerung stiegen die Kinder ins warme Wasser, waren noch einmal außer sich vor Freude und Lust. Dann habe ich sie ins Haus gebracht, und während wir auf der Ofenbank „Die kleine Hexe“ lasen, dehnten sich ihre Atemzüge, ihre Köpfe an meine Brust gelehnt schliefen sie ein, den Geruch von Rauch in den Haaren.
Wie laufen die Proben zum „allerletzten Alltag“ bei euch zu Hause? Erzähl mal, Lorenz! Kisses, L.