Wenn ich groß bin, will ich aber nicht so eine Arbeit wie du!

Jedes Mal, wenn wir an einem schönen Haus vorbeilaufen, sagt meine Tochter, wie schön es sein müsse, darin zu wohnen.

Sie haben bestimmt ein Kamin darin und eine schöne Aussicht.
Ich rate ihr: Dann musst du eben Ärztin oder Anwältin werden, dann kannst du dir so ein Haus kaufen. Ich weiß, dass sie weder Ärztin noch Anwältin werden will, sie findet beides
schrecklich.

Nee, Ärztin werde ich nicht, ich werde Anwältin.

Dann musst du Jura studieren und viele Gesetzestexte auswendig kennen und viel lernen.

Jura? Was ist das? Nee, ich will lieber so eine Arbeit wie Tante.

Tante hat die Stelle auch nur durch Zufall bekommen, sie hat etwas ganz anderes studiert.

Echt?

Ja, sie hat eigentlich Übersetzen studiert. Chinesisch und Arabisch.

Das wusste ich gar nicht. Egal, ich will aber in so einer Firma arbeiten wie Tante. Das Gefühl, nicht gerade ein Vorbild für das eigene Kind zu sein, was die Berufswahl anging, traf mich diesmal etwas härter. Ich stelle mir, vor wie mein hochsensibles Kind später in einem Konzern arbeiten und so tun wird, als sei sie zufrieden mit ihrem Leben. Gleich zwei mittellose durchgeknallte Eltern zu haben, muss schon eine Bürde sein. Ich konnte wenigstens auf eine wohlhabende Familienzeit in meinen ersten acht Jahren zurückschauen
mit Kindermädchen, Urlaub, Villa am Strand, Hochzeiten, riesigen Familienfesten, Liebe von allen Seiten – aber sie? Eine Mietwohnung nach der anderen. Urlaub? In elf Jahren zweimal. Das ist bescheiden. Wir besuchten eben mehr Freunde oder gingen auf Festivals mit ihr. Aber sie tut mir leid, irgendwie. Nicht nur wegen Corona, nicht nur wegen ihren durchgeknallten Eltern, nicht nur wegen ihrer chronischen Krankheit, nicht nur wegen ihrem
Dasein als Einzelkind, nicht nur wegen dem Ausbleiben einer Einladung zu einer Hochzeit in elf Jahren, nicht nur weil das Treffen mit Freundinnen die Ausnahme statt die Regel ist. Diese Kindheit ist so anders als meine eigene, dass es mir schwer fällt, sie als schön zu empfinden. Ich werde meinen Job trotzdem nicht wechseln. Jedes Mal, wenn ich sage: Ich habe eine gute Nachricht, fragt sie, hast du einen Job bekommen? Habe ich ihr meine Existenzangst vererbt? Wie oft fragte ich mich, ob unsere bescheidene Behausung der Grund sei, warum sie keine Freundin nach Hause einlädt.
Nach neun Tagen Quarantäne musste ich mit ihr in die Klinik. Als wir nach drei Tagen nach Hause durften, sagte sie, sie wolle lieber in der Klinik bleiben, einfach mal was anderes sehen. Urlaub in der Kinderklinik sozusagen.
Diese triste Kindheit von mittellosen Eltern, was wird sie mit ihr anstellen? Werden diese Kinder uns eines Tages als zu offen und egozentrisch und sich selbst als konservativ bezeichnen? Werden sie ein Kredit aufnehmen, um auf einer Privatuni zu studieren? Die Kinder der 68er wurden ja die größten Spießer, sagt man, vielleicht wird meine Tochter ja in einer Bank arbeiten, um immer Geld um sich zu haben und die Kontrolle darüber. Wenn auf
Menschen kein Verlass ist, muss es wenigstens aufs Geld sein. Wird sie auf ihre innere Stimme hören, die vielleicht gerne etwas ganz anderes gemacht hätte, etwas nicht wirklich Lukratives? Wie bringt man Kindern bei, dass Geld nicht glücklich, aber vielleicht etwas
sorgloser macht?