Ein gewöhnlicher Coronafeiertagsmontag aus meinem privilegierten Leben – Ostern 2020, ein Tagebuchauszug

Heute Morgen, vor acht, bevor der Arbeitstag beginnt: das Kind im Sich-Verstecken bestärken, das Bücherregale-Bemalen beaufsichtigen, ihm in verschiedenen Plüschtier- und Puppeninkarnationen Teile vom Knie und die Nase abfressen. Wir beide meistens gutgelaunt an meinen Arbeitstagmorgen – weil ich mich nicht auf sechs Stunden mit ihm alleine einstellen muss. Vor mir liegt das Privileg sechs Stunden potentiellen eigenständigen Denkens, Lesens und Schreibens in unserem Multifunktionszimmer (ein Ess- und Gästezimmer; jetzt, in diesem Moment: das Arbeitszimmer). Ich überquere eine Stunde später noch einmal den Flur, um kurz vom Schreibtisch aufs Klo und in die Küche zu fliehen. (Ich muss nämlich einen TÜV-Termin machen und einen Arbeitslosengeldantrag ausfüllen, bevor eine Renaturierung meiner Hirnlandschaft einsetzen kann).
Sich schließlich mit einer Tasse Kaffee zurückzuziehen, ist dann wie erwartet gar nicht so leicht. Der Junge auf dem Arm seiner Mutter weint, während ich an der Tür. Er lässt sich kurz trösten von ihr, und ich gehe hinein. Und steht dann ein paar Sekunden später doch wieder vor der geschlossenen Tür, weint und klopft. Also ein Nachsehen und noch einmal nachsehen, ihm erklären, dass ich arbeiten muss und wir uns nachher dann wieder, versprochen: Wir gehn in den Park, nach Maulwürfen graben. Doch was für ihn allein zählt, ist die Gegenwart. Miriam fragt in sein Weinen hinein, als ich ihn noch einmal zu mir nehme, ob ich mich schon um den Antrag kümmere. Aus dem Nichts diese Frage, doch zumindest kann ich ihr sagen (dieses Chaos von Kind auf dem Arm verhindert, dass mir mein schlichtes 1 Gewissen in Mimik und Gestik hineinfließt), dass ich die Mail an Frau M. vom Arbeitsamt schon geschrieben habe.2 Sie scheint fürs erste zufrieden. Aber allein schon die Frage schnürt ein, löst Beklemmungen aus, die jeden eigenen Gedankenfluss für Stunden abklemmen werden, das weiß ich. Ihr das Kind in die Hände und die Tür hinter mir zu.
Mittlerweile ist wieder Ruhe eingetreten. Wenn es plötzlich so ruhig wie jetzt ist, kann ich mich entweder konzentrieren oder horchen. Wenn es zu still ist, muss ich horchen, ob die Stille gut ist oder schlecht. Es ist nicht komplett still, ein paar leise hohe Töne von Miriam dringen durch die Türen. Das kann ein Herumalbern sein oder ein Weinen, wie sie es weint, wenn sie übermüdet und dazu verzweifelt ist, weil der Junge, für den ein Nein zumindest Vielleicht heißt, der ihre Abstillpläne beharrlich hinterfragt, nicht aufhört, ihr in den Ausschnitt zu greifen, oder weil er ihr aus Übermut per Kopfnuss die Lippe blutig geschlagen hat. Wenn ich wüsste, ob die Wohnzimmertür offensteht oder nicht, dann wäre die Lautstärke besser einzuschätzen. Kann sein, dass sie singt.
Sie hat mir ein Foto aus dem Wohnzimmer geschickt. Sie beide auf dem Sofa, der Junge sitzt neben ihr, den Arm in ihrem Ausschnitt, und schläft. Eingeschlafen beim Bilderanschauen. Und hier ist es still, und ich jetzt die reine Glückseligkeit, weil es still ist und Miriam sich erholen kann. Hell und still, noch zwei Stunden Zeit und vom lauten Gewissen befreit, weil mir eben wieder einfiel, dass ja immer noch Ostern ist, d. h. das Arbeitsamt schlummert.

1 Erst bloß ein Tippfehler – aber er hatte recht: Es ist eher schlicht als schlecht.
2 Ich sage immer noch “Arbeitsamt”. Sowohl “Jobcenter” als auch “Agentur für Arbeit” fühlen sich an wie Spielgeld.