Take Care: Lena Müller & Katharina Bendixen (I)

Liebe Lena,

es ist fast sieben Jahre her, dass D. und ich beim wöchentlichen Treffen eines neuen Hausprojekts waren. Unsere Teilnahme hatte sich eher durch Zufall ergeben, D. war einem alten Freund über den Weg gelaufen, der gemeinsam mit Bekannten vier unsanierte Mehrfamilienhäuser im Leipziger Osten aufgetan hatte. D. und ich wohnten damals noch nicht zusammen, ich war aber bereits schwanger – es war also die richtige Zeit, um über die Form des Zusammenlebens nachzudenken, die für uns zwei bzw. drei am besten wäre. Bei dem Treffen saßen fünfzehn Menschen im sonnigen Hinterhof, es ging um das Warmwasser und die Zusammenarbeit mit zwei Handwerker*innen, die Solaranlagen gemeinsam mit Hausprojekten installieren. Alle stimmten für die Zusammenarbeit, aber als gefragt wurde, wer im Sommer dafür Zeit hätte, meldete sich niemand. Das erschien uns seltsam, und noch viel befremdlicher erschien es uns, dass eines der vier Häuser ein Familienhaus werden sollte, mit einer Etage für alle Kindern und einzelnen Zimmer für die Eltern.

Inzwischen sind wir zu viert und wohnen in einer günstigen Vier-Raum-Wohnung im Leipziger Westen, und ich verliere fast jeden Morgen die Nerven, weil nur ich J.s Schuhe binden und nur ich L.s Jacke schließen darf und weil beide Kinder sich jedes Mal beschweren, wenn nicht ich, sondern D. sie in den Kindergarten bringt. Während D. sich ohne weiteres für eine halbe Stunde ins Arbeitszimmer zurückziehen kann, muss ich mich für jedes Telefonat im Bad einschließen. Dabei teilen D. und ich uns die Sorgearbeit gleichberechtigt, mit L. war er sogar länger in Elternzeit als ich. Ich frage mich, ob die Kinder sich anders verhalten würden, wenn wir in diesem Familienhaus wohnen würden. Das finde ich jetzt überhaupt nicht mehr befremdlich. Vielmehr wundere ich mich über meine damalige Engstirnigkeit, und ich gehe davon aus, dass es in allen vier Häusern warmes Wasser gibt. Aber inzwischen gehen im Hausprojekt pro Woche drei Einzugsanfragen ein, diese Gelegenheit ist also verstrichen. Und ich bin mir immer noch unsicher, ob ich in der Lage bin, mit achtzig Menschen eine Gemeinschaft zu bilden, wenn mir das schon bei vier Menschen oft unmöglich erscheint.

Eigentlich gerate ich nur selten in Widerspruch zu meinen Idealen – was vielleicht daran liegt, dass D. und ich uns in den zehn Jahren, die wir zusammen sind, eher noch ähnlicher geworden sind, und sicher auch daran, dass wir ungefähr gleich viel verdienen. Und doch bleibe ich immer wieder an der Frage hängen, ob wir nicht ganz anders leben sollten. Das Leben in einer Hausgemeinschaft, einem Wohnprojekt, einer großen WG scheint meine persönliche Ausbruchsfantasie zu sein. Vielleicht hat mich genau deshalb deine Teilnahme an der Care/Rage-Konferenz im vergangenen Sommer besonders beeindruckt, vielleicht lag es aber auch an der Klarheit, mit der du deine Gedanken zum Ausdruck gebracht hast. Jedenfalls möchte ich dich fragen, auch wenn wir uns gar nicht kennen: Wie gehst du mit den vielen Menschen in deiner Wohnung um?

Herzlich ins Unbekannte

Katharina

 

Liebe Katharina,

ich sitze am Flughafen und trinke ein Bier. Draußen scheint die Sonne, es ist ein schöner Herbsttag und ich verreise allein, zum ersten Mal seit Langem. Plötzlich habe ich Zeit, darüber könnte ich meinen Flug verpassen, leicht betrunken, wie ich bin. Unweigerlich heftet sich mein Blick an die kleinen Kinder, die mit ihren Eltern an mir vorbei zu ihren Abfluggates laufen. Der Flughafen scheint voller kleiner Kinder. Ihre Bewegungen ähneln denen meines Kindes, und da bekomme ich ein wenig Sehnsucht.

Sicher ist, dass ich noch nie jemanden so eingehend studiert habe wie das Kind, so viele Stunden dagesessen und jede Bewegung, Regung und jeden Einfall verfolgt habe. Noch nie habe ich jemanden auf diese grundsätzliche Weise gekannt. Liegt es an diesen stundenlangen Beobachtungen in den frühen Jahren, dass Eltern sich als die Hüter eines geheimen Wissens über ihre Kinder fühlen – auch später noch, wenn sie sich vielleicht weit voneinander entfernt haben? Ein geheimes Wissen, das sicher irgendwie richtig liegt, aber wahrscheinlich auch ziemlich falsch in dem, was ein Mensch später werden will?

Ich sitze in der Flughafenbar und spüre dem schönen Gefühl nach, an mein zu Hause gebliebenes Kind zu denken. Dem schönen Gefühl, allein hier zu sitzen, allein zu fliegen, der Vorfreude auf einige Tage allein.

Wenn ich an das Zuhause denke, das ich für einige Tage verlasse, weiß ich: Auch in meiner Abwesenheit wird es dort nicht still und verlassen sein. Wir wohnen in einer großen Wohnung, sieben Erwachsene und zwei Kinder. Jeden Abend um 18:30 Uhr gibt es Abendessen für alle, gekocht wird abwechselnd. Beim Essen ist es oft unruhig, manche kommen später, andere müssen schnell wieder weg, es wird geredet, organisiert. Manchmal habe ich den Eindruck, den Kindern ist es zu viel, sie sind müde, sind laut, wollen Aufmerksamkeit, stehen auf und laufen herum. Manchmal würde ich es mir ruhiger wünschen, mit mehr Raum für Nähe nach einem langen Tag in der Kita und am Schreibtisch.

Wenn ich darüber nachdenke, haben verschiedene Erfahrungen meine Vorstellungen über Zusammenleben, Familie und Zusammengehörigkeit geprägt. Eine ist meine Erfahrung als Kind zweier Vollzeit arbeitenden Eltern, die sich gegenseitig aus dem Weg gingen. Deshalb fühlte sich dieses Zuhause oft ziemlich still und unbelebt an. Ich wusste: So will ich es selbst nicht machen. Zwei Erwachsene und ein Kind in einer Wohnung, no thanks. Eine andere ist: Ich bin gern allein. Es gehört zu meiner Arbeit, nachzudenken, zu lesen, zu schreiben – alles Dinge, die immer wieder einen Rückzug von anderen erfordern. Ich wusste also, ich will mich herausnehmen können aus dem Alltag, zumindest hin und wieder, ich will nicht unersetzlich sein. Auch wenn ich nicht da bin, soll niemand alleine sein müssen.

Schon als Kind fand ich die Familien der anderen faszinierend und gleichzeitig ein wenig beklemmend mit ihren vielen unausgesprochenen Regeln, ihren festen Tagesabläufen und Ritualen. Für mich stand fest: Die echten Familien waren immer die anderen. Vielleicht spielen daher Freundschaften für mich eine so wichtige Rolle, das Sich-Verbinden und Verbindlich-Sein außerhalb familiärer Bindungen.

Mein Eindruck ist, dass auch die selten benannten Erfahrungen im Hinterkopf eine Rolle spielen, wenn wir uns für eine Art des Zusammenlebens entscheiden. Und dass letztlich unsere eigenen Umsetzungen wiederum unperfekt bleiben. Wie gehst du es an, wenn du dich für eine Weile aus dem Alltag verabschieden möchtest?

Ich las einmal, dass das Leben mit Kindern in größeren (Wohn)gemeinschaften the hardest way to get it easy sei. Würde ich mich dem anschließen? Ich weiß es nicht. Einerseits genieße ich die Zugewandtheit, die die Mitbewohner*innen meinem Kind entgegen bringen. Ich freue mich, wenn es fröhlich durch die Wohnung läuft, mit dem anderen Kind spielt oder sich eine erwachsene Person zum Vorlesen aussucht. Andererseits gibt es zwischen den Kindern oft Tränen, Geschrei, manchmal Streit. Immer scheint dieses Zuhause ein wenig in Aufruhr, die Stimmungen von zwei Kindern und sieben Erwachsenen gehen über es hinweg. Und natürlich weiß ich, dass ich für mein Kind unersetzlich bin. Und sein will. Ich weiß, wenn ich ein wenig länger weg war und zurückkomme, bekomme ich nicht nur seine Liebe, sondern auch ein seine Wut darüber zu spüren, dass ich weg war. Ich will der Fels sein, an den diese Wellen branden können. Was möchtest du gerne sein?

Apropos Wellen. Ich beeile mich, meinen Flug nicht zu verpassen, und grüße dich herzlich aus der Ferne,

Lena

Teil II des Briefwechsels