Take Care: Lena Müller & Katharina Bendixen (II)

Teil I des Briefwechsels

Liebe Lena,

ich hoffe, deine Reise war schön und die Landung zurück im Familienalltag dann sanft! Ich bin gedanklich in deinem ersten Absatz hängengeblieben, in dem du über das geheime Wissen schreibst, das Eltern über ihre Kinder hüten. Aus den verschiedenen Emotionen, die mich in den sechs Jahren meiner Mutterschaft bisher überrollt haben, sticht dieses Gefühl vielleicht hervor – oder vielmehr das Wissen, dass ich einst für meine Eltern das war, was L. und J. jetzt für mich sind. Inzwischen bewundere ich meine Eltern fast für den Gleichmut, mit dem sie meine Wut ertrugen, die lange anhielt, bis in meine Zwanziger – Wut worauf eigentlich? Dass sie in ihrem geheimen Wissen manchmal falsch lagen, wie du schreibst? Aber lassen sich die Gefühle zwischen zwei Generationen überhaupt vergleichen? Angeblich ist die Gleichberechtigung in der DDR eine Legende – in Wirklichkeit mussten die Frauen beides leisten, Haushalt und Beruf. Vielleicht konnten sie ihrem Beruf aber mit mehr Selbstverständlichkeit nachgehen, mussten sich weniger rechtfertigen, wenn sie das Kind erst nach neun Stunden wieder im Kindergarten abholten. (Dass es in unserem Kindergarten eine Art Wettbewerb gibt, wer sein Kind besonders zeitig abholt, darauf musste mich erst eine gute Freundin hinweisen, deren zwei Kinder in dieselbe Einrichtung gehen. Sie ist übrigens einem Gemeinschaftszusammenhang völlig abgeneigt; vielleicht liegt es daran, dass sie mit einer Frau verheiratet ist und ihre Familie, die nicht der Norm entspricht und mit der sie durch zwei zeit- und kräftezehrende Adoptionsverfahren gehen musste, schützen und auch abgrenzen will?)

Was sich jedenfalls nicht vergleichen lässt: Die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, kostete monatlich 57 Mark und verfügte beim Einzug weder über Türen noch über Kabelschächte. „Den Gips für die Türfüllungen habe ich im Haus der tausend Dinge gekauft“, erzählt meine Mutter. „Dort gab es manchmal Gips.“ Dass es alltägliche Dinge nicht gab, ist eine weitere DDR-Legende, diesmal aber eine wahre. Dafür gab es im Haus meiner Kindheit eine Gemeinschaft, Hoffeste mehrmals im Jahr, eine Hauskasse für die Antenne auf dem Dach, mit der man Westfernsehen empfangen konnte; mit unseren direkten Nachbarn sind meine Eltern noch immer eng befreundet. In dem Haus, in dem D. und ich leben, gibt es auch eine Gemeinschaft, gelegentlich ein Grillfest, man hilft sich mit Werkzeug aus, während der Kitaschließungen haben wir Spielzeug hin und her getauscht. Aber ja: vor allem kann ich die Tür hinter D. und L. und J. und mir schließen. Und wenn die Kinder im Hof zusammen spielen, merke ich sofort, was ich nur schlecht aushalte: Wie die anderen Eltern das Spielzeug ihrer Kinder beschützen, selbst wenn diese es gerade nicht benötigen; wie sie sagen: „Es ist okay, dass du gerade nicht teilen kannst. Dann bring deinen Roller doch hoch in die Wohnung.“ – „Wäre das nicht fabelhaft, meins und deins wird abgeschafft“, singt das GRIPS-Theater.

Wie hast du die Menschen gefunden, mit denen du deine Werte teilst, oder wie hältst du es aus, dass ihr manche Werte eben nicht teilt? Lässt sich das leichter aushalten, wenn man sich dank der Wohnstruktur häufiger aus dem Alltag zurückziehen kann? Wahrscheinlich geht es – wie auch in der Beziehung zu den Kindern – um Grenzen, und sie zu spüren, auf sie hinzuweisen, sie zu verteidigen, lernt man in der Gemeinschaft sicher schneller. Wie hast du das gelernt, wenn du aus einer so stillen Familie kommst? Gab es in deinem Leben eine Zeit, in der dich als Teil einer Gemeinschaft erst kennenlernen musstest? The hardest way to get it easy, ich glaube, das habe ich auch schon einmal gelesen, in „Links leben mit Kindern“, das ich verschlungen habe wie einen Kriminalroman. Gibt es denn einen Weg, der weniger hard ist? Mit den eigenen Eltern zusammenwohnen? Einen gutbezahlten Job finden und bestimmte Probleme wegkaufen? Keine Kinder bekommen?

Die Tür hinter mir kann ich jedenfalls nur selten schließen, und wenn, dann muss ich den Schlüssel herumdrehen. Auch das hat mich damals von dem Hausprojekt abgehalten: Ich bin ebenfalls sehr gern allein, deshalb wollte ich eigentlich nicht mit so vielen Menschen zusammenleben. Mir war nicht klar, dass man ohnehin nicht mehr allein ist, wenn man Kinder hat, und dass die Gemeinschaft etwas Verantwortung und Druck abfedern kann. Allein bin ich eigentlich nur tagsüber in meinem kleinen Schreibbüro. Und ich bin wirklich froh, dass ich es mir zurzeit leisten kann, im Laufe des Arbeitstages immer wieder ein paar Minuten zu verschwenden. Vielleicht hielte ich es sonst gar nicht aus. Oder nein, die traurige Wahrheit ist ja, man hält fast alles aus. Verschwendest du auch?

Ich gehe jetzt jedenfalls ins Büro, lesen, schreiben, verschwenden.

Auf bald

Katharina

 

Liebe Katharina,

heute Morgen war so ein richtiger Berliner Novembermorgen. Mit dem Rad durch den Regen unterwegs zur Kita, die Zeit ist knapp, ich trete in die Pedale, umkurve haltende Autos und das feuchte Laub auf der Straße und versuche, nicht ins Schlingern zu geraten. Das Kind hängt müde im Kindersitz, stumm sitzen wir hintereinander. In Gedanken hadere ich mit mir, warum ich nicht früher losgefahren bin und für besseren Regenschutz gesorgt habe. Und was bloß denkt das Kind, warum macht es keinen Ton? Wir passieren eine Plakatwand, auf der steht: „Für alle, die über sich hinauswachsen wollen.“ Ich will rufen: Danke nein, wollte ich doch gar nicht, nicht hier, nicht jetzt, nicht so!

Du fragst, wie ich Menschen gefunden habe, mit denen ich genug Werte teile, sodass ein Zusammenleben möglich scheint. Eine abschließende Antwort habe ich darauf nicht. Zu schwer scheint es mir oft, gemeinsame Werte und ihre Umsetzung im Zusammenleben zu umreißen. Vielleicht so: Gefunden habe ich einen Zusammenhang, der aus einigen Freundschaften und Bekanntschaften entstanden ist, einen Zusammenhang, der sich spontan bildete, weil eine städtische Wohnungsbaugesellschaft einen neuen Wohnblock baute. Mit unter anderem sieben Wohnungen mit ungewöhnlichem Grundriss, 300qm-Wohnungen, ausgelegt für sechs bis zehn Bewohner*innen. „Neue urbane Wohnformen“ hieß das in der Beschreibung. Wir bewarben uns zu neunt auf eine der Wohnungen. Und bekamen sie, trotz relativ geringer Einkünfte und fehlender Sicherheiten. Der Konkurrenzdruck war kleiner: Auf die großen Gemeinschaftswohnungen bewarben sich viel weniger Menschen als auf die 1 bis 4-Zimmer-Wohnungen.

So kamen wir zu unserem neuen Wohnraum: Eine Wohnung mit ziemlich kleinen Zimmern und recht großzügig bemessenen Gemeinschaftsflächen, also einer großen Küche, einem langen Flur und einer Art Wohn- und Spielzimmer. Wir trafen uns vor unserem Einzug ein paar Mal und hatten das Gefühl, dass es miteinander passen könnte. Alle, auch die Erwachsenen ohne eigene Kinder, hatten Lust, mit den Kindern zusammenzuwohnen. Dazu eine nicht genauer umrissene feministische und solidarische Grundhaltung.

Und trotzdem ist es nicht immer easy. Auch zwischen verschiedenen Kindern und verschiedenen Eltern. Ich beobachte mich selbst und die anderen und sehe: Die Beziehung zu den eigenen Kindern ist voller widersprüchlicher Emotionen und halb- und unterbewusster Prämissen. Darin prominent platziert: das eigene Verhältnis zu Besitz. Du beschreibst, wie es dir zusetzt, wenn die Kinder im Hof so sehr auf den eigenen Sachen beharren, auch wenn sie sie gerade gar nicht benutzen, und wie die Eltern sie darin bestärken. Oft verhandeln wir zu Hause ähnliche Konflikte. Und dabei habe ich manchmal starke Gefühle: Den Wunsch, einfach eine Tür zuzumachen und meine Ruhe davor zu haben. Die Wut auf die Kinder, die den Besitz von Spielsachen als Machtoption wahrnehmen und damit experimentieren. Das Gefühl, dass auch die Erwachsenen sich mitunter gedankenlos Dinge und Raum aneignen. Und die Angst, vielleicht selbst zu kurz zu kommen oder die Interessen des eigenen Kindes nicht gut genug zu verteidigen. Keine schönen Gefühle, aber es gibt sie.

Es braucht einiges an Zugewandtheit und Gelassenheit, um darin gut miteinander umzugehen. Meistens gelingt es, manchmal weniger. Wie kann es aussehen, immer wieder von der Fülle auszugehen und nicht vom Mangel? Was meinst du?

Du fragst, wie ich mich selbst als Teil einer Gemeinschaft kennengelernt habe. Seit meinem Auszug bei meinen Eltern vor zwanzig Jahren habe ich kollektiv gewohnt, in der Stadt und auf dem Land, in besetzten Häusern und Mietwohnungen. Wahrscheinlich komme ich mittlerweile auf ungefähr tausend Stunden Wohn- und Hausplena in unterschiedlicher Zusammensetzung. Ob sich das gelohnt hat? Welches geheime Wissen habe ich dabei gesammelt, welche Fertigkeiten perfektioniert?

Jedenfalls war es so: Wenn ich vom Kinder-Kriegen und Kinder-Haben überhaupt ein Bild hatte, dann war es verbunden mit einem vielleicht etwas romantischen Bild von großen Küchen und langen Tischen, wo fast immer jemand sitzt, zu dem man sich setzen kann. Wenn ich ein Bild vom Kinder-Haben hatte, war es etwas, was uns näher zusammenbringt, weil es etwas von uns fordert – aber wer ist eigentlich dieses „uns“?

Aus den Lektüren feministischer Texte von Silvia Federici und anderen hatte ich mir eingeprägt, dass die kapitalistisch organisierte Gesellschaft funktioniert, indem sie die Sphären voneinander trennt, die Produktion und die Reproduktion. Und dass sie die Vermittlung zwischen den Sphären, die eigentlich nicht vermittelbar sind, den Einzelnen überträgt: Sie sollen die Widersprüche überbrücken, die daraus entstehen, dass beide Sphären eigentlich absolutes Engagement erwarten und die gesamte Zeit beanspruchen.

Oft habe ich das Gefühl, noch zwischen mehr Sphären zu vermitteln als zwei, alles fühlt sich ziemlich portioniert an. Ich bin unterwegs zwischen der Sphäre der Häuslichkeit, des Gute-Nacht-Geschichten-Vorlesens, des Streit-Schlichtens, des Klamotten-Sortierens und Staubsaugens; der Sphäre der politischen Arbeit, des Engagements; der Sphäre des Geld-Verdienens, der kreativen Arbeit, des Kontakte-Knüpfens, des Projekte-Machens; und der Sphäre der Freundschaft, der Kultur, des Sich-Aneinander-Verschwendens. Und alle funktionieren nach unterschiedlichen Regeln.

„Was noch?“, würde das Kind jetzt herausfordernd rufen. Es liebt Aufzählungen, es ist ein Spiel, das wir oft spielen. Was meinst du: Was noch? Zwangsläufig gerät sie zu kurz, diese Aufzählung, und bildet nur unvollständig die Reibungen und Überschneidungen ab, die sich zwischen den Sphären ergeben. Auf dem Rad im Regen, auf dem Weg dazwischen ist es etwas einsam. Vielleicht werden wir unterwegs zu Einzelkämpferinnen. Was meinst du?

Die Frage nach der Verschwendung jedenfalls, nach dem Sich-Verschwenden ist so wichtig, vielleicht sogar zentral. Ich bin froh, dass du sie stellst. Kein Schreiben scheint möglich, ohne sich zu verschwenden.

Ich freue mich schon sehr auf deine nächsten Gedanken.

Viele Grüße

Lena

Teil III des Briefwechsels