Mütter, die gehen (II): Alexandra Kollontai

Ohne Familie, ohne Haushaltssorgen, ohne Auseinandersetzungen mit meinem Mann und ohne die Kontrolle durch meine Eltern würde ich allein, ganz für mich, als Studentin leben und mein Wissen erweitern.

Das Lesen ihrer Tagebuchaufzeichnungen wirft mich unmittelbar zurück in das Jahr 2015. Ich treffe die Entscheidung, mich von meinem Partner, Vater meiner jüngsten Tochter, und damit dem klassischen Kleinfamilienleben zu trennen und ein künstlerisches Studium in einer 58 km entfernten Stadt zu beginnen. Auch Alexandra Kollontai ist eine von ihnen. Eine Mutter, die sich entscheidet, ohne Kind und Mann an einem anderen Ort zu leben. Sie tut es für zwei Jahre. Andere Mütter leben ein Wechselmodell, sehen ihre Kinder nur am Wochenende oder kommen gar nicht zurück. Bezeichnet als „Rabenmütter“, begegnet es mir zu oft, dass Mütter, die gehen – im Gegensatz zu den die Familie verlassenden Vätern – sich erklären müssen, Vorurteilen ausgesetzt sind, es ihnen nicht ohne Weiteres zugestanden wird, auch ein Leben ohne ihre Kinder zu haben, in welcher Form der zeitlichen Ausgestaltung auch immer.

Von meiner Aufgabe ließ ich mich nicht abbringen.

Warum sollen Müttern nicht gleiche oder ähnliche Motive zugestanden werden wie den Vätern, die gehen? Selbst mich überkommt, während ich diese Sätze schreibe, nach wie vor ein ungngenehmes, unbequemes Gefühl, ausgelöst von „das gehört sich nicht, das kannst du als Mutter nicht machen, die Kinder brauchen dich, die Kinder brauchen doch ihre Mutter“. Sätze, die ich tausendfach gehört und auch geglaubt habe.

 

Im unbekümmerten Familienalltag dahinleben wollte und konnte ich nicht. Jene Welt, die Lebensbedingungen, die mich umgaben, lähmten mich und untergruben mein Vertrauen in die eigene Kraft.

Mein Interesse für die Perspektive der Frauen, die so handeln, rührt aus meinen eigenen Erlebnissen und ich frage mich, ist es so schwer anzunehmen, dass es den Kindern ebenso gut gehen kann, wenn sie hauptsächlich mit Vater statt Mutter zusammenleben? Was braucht es für die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Modells? Ich starte mit der Reihe „Mütter die gehen“ einen Austausch über diese und mit diesen Frauen, mit ihren Erlebnissen, ihren Biografien.

In der nächtlichen Stille, beim schwachen Schein des Bettlämpchens, mache ich mir zehnmal mehr Vorwürfe. Aber wie soll ich meine Arbeit mit den familiären Pflichten unter einen Hut bringen?

Beginnen möchte ich den Dialog mit Alexandra Kollontai, die mir 2021 auf der Kantine de Pizan in Chemnitz wiederbegegnet ist. Wir befinden uns mit ihr im Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts. Mit offenen Augen für die dort herrschenden sozialen Ungerechtigkeiten stellt sie schon früh die vertrauten patriarchalischen Strukturen in Frage und setzt sich für eine Befreiung der Frau ein, indem sie für das Recht auf Abtreibung, Volksküchen und kollektive Kindererziehung eintritt. Ihre Mutterschaft betrachtet sie nie als Kernpunkt ihrer Existenz. Ihre Sympathien und Interessen gelten nicht der Rolle als Hausfrau und Gattin, sondern der revolutionären ArbeiterInnenbewegung Russlands. Die Versklavung des ArbeiterInnenvolkes lässt sie kein glückliches und ruhiges Leben führen. 1898 geht sie für zwei Jahre nach Zürich, um zu studieren und sich politisch zu engagieren. Ihr gemeinsames Kind bleibt bei ihrem Mann in St. Petersburg.

Der Haushalt interessierte mich nicht im Geringsten, und um meinen Sohn konnte sich sehr gut die Kinderfrau Anna Petrowna kümmern.

Ist es schlimm, verwerflich, unmoralisch, solche Gedanken zu haben und diese umzusetzen? Für mich sind sie plausibel und nachvollziehbar. Und doch schießen mir zugleich wieder Sätze durch den Kopf wieWozu hast du denn dann Kinder?“ und „Du hast dich doch dafür entschieden!“ – Ja, aber wofür eigentlich?

Und doch war mir, als würde mich dieses „Glück“ irgendwie einzwängen. Ich aber wollte frei sein. Was verstand ich darunter? Ich mochte nicht so leben, wie alle meine jungvermählten Freunde und Bekannten.

Jobs wechseln, Beziehungen beenden, Städte verlassen, absolut gerechtfertigt, wenn du doch unglücklich bist, die Umstände dich überrennen, nicht Vorhersehbares unüberwindbar wird und du eine zunehmende Lebensunlust verspürst. Geht es hierbei um den Alltag mit Kindern und in Kleinfamilie, gilt eine Mutter, die geht, als egoistisch und ihr Verhalten als moralisch unvertretbar.

Auf einem Bahnhof unweit der Grenze, wo sich die Züge begegneten, wäre ich beinahe ausgestiegen, um den Gegenzug zu nehmen, der mich zu meinem Mann zurückgebracht hätte. Doch das hätte bedeutet, dass ich alle meine Wünsche und Vorhaben völlig aufgab. Dabei kam die Gelegenheit, mit meiner Umgebung zu brechen, vielleicht nie wieder.

All diese Gedanken ereilten auch mich, als ich vor der Entscheidung stehe, ein Studium in einem anderen Ort zu beginnen und meine Partnerschaft mit dem Kindsvater zu beenden, ein WG-Zimmer zu beziehen mit nur dem Nötigsten – einem Bett, einem Schrank, einem Tisch –, nebenan das Atelier der Hochschule, Tag und Nacht zugänglich. Eine neue Zeitrechnung beginnt, ein neuer Tag-Nacht-Rhythmus, ein neuer Wach-Schlaf-Rhythmus. Ich habe Schuldgefühle. Und gleichzeitig genieße ich meine neue alte Freiheit. Der Umgang mit diesem Zwiespalt beschäftigt mich intensiv noch mehrere Jahre, mäßig noch heute. Es braucht viel Zeit und Geduld, mein eigenes Verhalten als Mutter zu akzeptieren, dazu zu stehen und mich von Vorwürfen nicht grundlegend schlecht fühlen und verunsichern zu lassen.

Als ich vernahm, wie die Briefe auf den Boden des Briefkastens fielen, wusste ich, dass nun alle Wege zurück in mein früheres Leben abgeschnitten waren. Mein Herz krampfte sich für einen Augenblick zusammen – war das das Ende? Doch am nächsten Morgen, im hellen Sonnenschein, erschien mir die Zukunft in anderem Licht als in der Nacht. Ich blickte nicht mehr zurück, und die Zukunft schreckte mich nicht mehr, sondern lockte.

Ja, es ist irgendwas dazwischen. Zwischen „Ich darf nun meine Interessen, meine Freiheit leben, weil ich viel zu früh Mutter geworden bin“ und „Eigentlich darf ich das doch gar nicht“. Das Arrangieren mit den neuen Lebensumständen dauert, es zerbrechen Freundschaften und Kontakte zu Menschen aus der Familie, die diesen Schritt nicht nachvollziehen können oder wollen.

So warf ich mich in den Kampf zwischen die russischen Frauenrechtlerinnen und strebte mit ganzer Kraft darnach, dass die Arbeiterbewegung auch die Frauenfrage als eines ihrer Kampfesziele in ihr Programm aufnehme.

Im Jahr 1899 kehrt Alexandra Kollontai zurück nach St. Petersburg und arbeitet als Schriftstellerin und Propagandistin. Gemäß ihrem sozialistischen Ansatz, befreit von finanzieller Abhängigkeit eines Mannes und patriarchalischen Eigentumsverhältnissen, lebt sie vom Vater ihres Kindes getrennt. Ihr Sohn bleibt bei ihr.

Nachweis:
Alexandra Kollontai: Die Jugendjahre in: Ich habe viele Leben gelebt. Autobiographische Aufzeichnungen. Dietz Verlag 1974.
Barbara Kirchner zu Alexandra Kollontai: Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin (1926), Laika Verlag 2012.

Ein Beitrag aus der Reihe Mütter, die gehen.