kismet

 

in memoriam Mevlüde Genç

 

eines von ihnen fängst du

in der schürze auf,

ein anderes trägst du

um den kopf gebunden

wie einen schleier.

 

sie stürzen auch noch

in deinen träumen

& zwar jede einzelne nacht,

loslassen ist keine option.

 

mit erloschenen augen wachst du über den schmilzenden schnee

trägst mit tauben händen die gebeine deiner kinder,

läufst ohne füße von almanya nach anatolien &zurück

singst stimmlos das letzte wiegenlied, ninni,

wenn der wind nicht wäre, ich hätte es nie gelernt.

 

Wein wenig,

sage ich.
Sei ruhig traurig. Sei wütend, enttäuscht, sei laut,  da ist Platz für all das.
Doch gib diesen Gefühlen nicht zu viel Raum.

Wein wenig.

Wenn dich jemand schlägt, sage ich, wenn weglaufen nicht funktioniert, wenn Hilfe holen nicht funktioniert, schlag zu. Nicht ein wenig. Schlag zu. Mit aller Kraft. Mitten ins Gesicht. Hab keine Angst dem anderen weh zu tun. Du musst dich wehren können.

Ich weiß, sage ich, Maria sagt immer: Das ist keine Lösung. Und es ist auch keine. Aber du darfst diese Grenze setzen: Wenn du mir weh tust, schlage ich zurück. Ich beantworte Gewalt mit Gewalt. Damit ich nicht noch mehr Schläge einstecke.

Es gibt keinen Frieden hinter dieser Gewalt. Ode nur in Ausnahmefällen. Es wird immer Gewalt geben. Auf die eine oder andere Art und Weise. Die Frage ist nur, wie wir sie reduzieren können. Wie sie immer weniger werden kann, statt mehr. So, dass jeder nur wenig weint. Vielleicht nur eine Träne. Oder höchstens zwei.

The fear | Die Angst

The fear I have that someone will have hurt my children is an unrefined feeling, a blunt impact on the back of your head. It hits me whenever my phone rings, a local number, an unknown number, ushering in the need to compose myself, to straighten up and take the message so I’ll know what to do next. What comes next. Tightening the seams where my body threatens total dissolution, I take the call. Nothing has happened.

And then, at some point, I notice that the inchoate regret I had felt at not seeing more Black features in my children – sadness at seeing that line of the family disappear, at least visibly, worry that others might read this as an intentional erasure – has transmuted entirely. Today, in this climate, as they say, I’m secretly relieved and grateful that my children can pass as white.

 

Die Angst, dass jemand meinen Kindern Gewalt angetan hat, ist ein ungeschliffenes Gefühl, ein stumpfer Schlag auf den Hinterkopf. Es trifft mich, wann immer mein Handy klingelt, eine Festnetznummer, eine unbekannte Nummer, und ich muss mich zusammenreißen, mich aufrichten und die Nachricht entgegennehmen, damit ich weiß, was ich als Nächstes tun soll. Was als nächstes kommt. Ich ziehe die Nähte dort zusammen, wo mein Körper sich aufzulösen droht, und nehme den Anruf entgegen. Nichts ist passiert.

Und dann, eines Tages, merke ich, dass sich das unbestimmte Bedauern, das ich empfunden hatte, weil ich wenig Schwarz in meinen Kindern sah – die Trauer darüber, dass diese Seite unserer Familie visuell schwindet, die Sorge, dass andere dies als absichtliche Auslöschung deuten könnten – völlig gewandelt hat. Heute, in diesem Klima, wie man so schön sagt, bin ich insgeheim dankbar und erleichtert, dass meine Kinder weiß gelesen werden können.

 

 

Kuschkunde 

Die Welt tut weh

so Vogel Kusch

Vom Abend bis zum Morgen

 

Er fliegt zum

Weltensammelsee

will sich eine andere borgen

 

die Welt tut weh

weint Vogel Kusch

wo sind die Fiederlieder?

 

Er singt Shalom

Salam und Klee aus

seinem Peacegefieder

 

 

 

salam= سلام = Frieden (Arabisch)

shalom= שלום = Frieden (Hebräisch)

kusch = kuş = Vogel (Türkisch)

 

 

Der Weltverschlinger / für Max

Der Junge sitzt am Tisch und er bestellt sich
ein Wort zum Frühstück, das er gleich verschlingt
ein zweites dann und zu den zwei gesellt sich
ein drittes Wort, das er herunter zwingt:

Pronomen, Numerale und Partikel,
Quantoren Substantiv und Konjunktion,
Adverben, Adjektive und Artikel,
Präpositionen, Verb, Interjektion.

Er beißt sich durch Nasale, Labiale,
Plosive, Frikativ, Vibranten, lutscht
Vokalen ihre Silben von der Schale
und schmatzt, wenn ein Diphthonge dazwischen rutscht,

knackt Konsonanten, Doppelkonsonanten,
verspeist, verzehrt, vertilgt, verdrückt, verdaut
die Worte noch bis auf den letzten Laut
und Dinge, wie wir sie bis eben kannten.

Hinter dem Horizont

Menschen, aus Verzweiflung, aus Perspektivlosigkeit auch, die Gewalt wählen, der Horizont dahinter aber, den wir anstreben, muss gewaltlos sein.“

Lauren Bastide[1]

 

Während in unserer Schulzeit[2] der Feueralarm als Manifestation der größtmöglichen Bedrohung geübt wurde, sind unsere Kinder mit einer Vielzahl an Bedrohungen konfrontiert.

Gewalt nimmt auch in unserem Alltag stetig zu.

Nicht nur die Zahlen häuslicher Gewalt steigen, auch die Onlinegewalt, die virtuelle Gewalt, kommuniziert über Bilder, die Gewalt auf den Straßen und natürlich Kriege und gewaltvolle Konflikte wie Terror.

Ein möglicher Bürgerkrieg ist eine Bedrohung, mit der sich heute auch europäische Führungsmächte auseinandersetzen.

Viele Menschen verstummen vor dieser wachsenden Bedrohung.

Für Otherwriters haben sechs Autorinnen und Autoren dazu geschrieben:

 

 

[1] Lauren Bastide ist eine französische Journalistin und Autorin, die mit ihrem Podcast „La Poudre“ bekannt wurde. 2022 erschien von ihr „Futur-es“, eine Reflektion über die Möglichkeiten einer Welt ohne Patriachat, 2024 erscheint der Roman „2060“, eine Dystopie in der eine Frau am Tag ihres Todes auf ihr Leben und damit die feministischen Kämpfe des letzten Jahrhunderts zurückschaut.

[2] Hiermit ist das Narrativ der in der Wiedervereinigten Bundesrepublik Aufgewachsenen  gemeint. Andere Erfahrungen sind gerne zu berücksichtigen und eingeladen, sich auszudrücken.

An meine Kinder

Mitten in einem Schlag, der uns in die Knie zwingt, weil er gesessen hat, und mehr noch, weil wir seine Rechtfertigung nicht sehen, mitten in diesem wortlosen Schlag sehen wir plötzlich den Horizont dahinter.

Uns blutet die Lippe, uns pocht die Wange, etwas knirscht, wenn wir den Kiefer bewegen, und wir fragen uns stumm, woher ist das gekommen, trifft uns das wieder, und wann. Die Lippe, die Wange, der Kiefer, das wird wieder zuwachsen, aber wir sind schon andere. Wörter haben wir dafür nicht, und als wir das bemerken, will sich uns die Faust ballen zum Schlag.

Und doch: Irgendwann werden wir dahinter ankommen. Es wird ein Wind gehen, und wir werden nicht heil sein, aber eine Frage stellen können.

Es ist keine leichte Aufgabe, herauszufinden, wie wir dahinter kommen, ohne mitten hindurch zu gehen.

Zum Glück helft ihr mir suchen.