Brief an einen Menschen, der wächst

ich weiß, ich kann diesen Brief nur an Dein Ich in der Zukunft schreiben, und das wird über meine Worte wohl nur lachen. Aber ich muss Dir schreiben, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich das noch länger überleben werde. Es spielt keine Rolle, worum es bei unseren Streitereien geht, das Nachhausekommen, die Hausaufgaben, das Zimmeraufräumen, das Wäschesortieren, das Tischdecken, das Drinnenbleiben, das Rausgehen, das Freundehaben, das Keinefreundehaben, die schlechten oder die guten Freunde, genau wie die Noten, es spielt keine Rolle. Du ziehst verzweifelt an einem Ende des Seils, ich am anderen. Du suchst Deine Grenzen, Du drückst alles in die Extreme, Du willst spüren, dass Du existierst, dass Du frei atmen und Dir Deine eigene Welt bauen kannst.

Ich sehne mich nach dem Kind, dass Du mal warst, und diese Sehnsucht schmerzt mich so sehr.
Aber was mich am meisten schmerzt, ist, dass wir beide alleine kämpfen, ich muss so verbittert darum kämpfen, dass Dein Hass mich nicht zerbricht, ich muss darum kämpfen, dass mich Deine Wut nicht zerstört, obwohl sie mein Innerstes auseinanderreißt Diesmal presse ich nicht, sondern Du schneidest mir tief ins Fleisch, während Du strampelst, um Dich zu befreien. Ich weiß genau, Du liebst mich jetzt gar nicht mehr, und ich muss Dich und auch mich für uns beide lieben, aber ich verzweifle daran. Ich will diesen Kampf aufgeben, weil es nicht meiner ist, und vor allem, weil ich darin die absolut undankbarste Rolle habe. Niemand hat mir vorher gesagt, dass ich die Böse sein werde und wie beschissen das ist. Keiner hat mich darauf vorbereitet, Dir bei diesem Kampf wie ein Drache entgegenzutreten, damit Du spüren kannst, dass Dein Schatten nicht größer ist als Dein Licht und auch dass kein Streit das Ende einer Beziehung ist und vor allem, dass Du auf Dich selbst hören musst, auch wenn es mich so bitter enttäuscht.

Dieser Kampf wird enden. Für Dich wird er enden, wie ein Gewitter endet. Du wirst ihn vergessen. Du wirst mir nicht dafür danken. Du wirst mich dafür wahrscheinlich noch kritisieren. Ich werde damit leben müssen, dass alles, was ich tue, niemals ausreichen wird. Aber ich werde nicht vergessen. Für mich ist das hier ein Sturm, der einen Teil von mir selbst mit sich reißt. Und deswegen klammere ich mich mit all meiner Verzweiflung an diesen einen Gedanken, und zwar, dass ich gerade dabei bin, für Dich, jetzt und hier, die wichtigste Aufgabe zu übernehmen, die ein Mensch in diesem Augenblick für Dich machen kann: Nicht loszulassen.

kismet

 

in memoriam Mevlüde Genç

 

eines von ihnen fängst du

in der schürze auf,

ein anderes trägst du

um den kopf gebunden

wie einen schleier.

 

sie stürzen auch noch

in deinen träumen

& zwar jede einzelne nacht,

loslassen ist keine option.

 

mit erloschenen augen wachst du über den schmilzenden schnee

trägst mit tauben händen die gebeine deiner kinder,

läufst ohne füße von almanya nach anatolien &zurück

singst stimmlos das letzte wiegenlied, ninni,

wenn der wind nicht wäre, ich hätte es nie gelernt.

 

Hinter dem Horizont

Menschen, aus Verzweiflung, aus Perspektivlosigkeit auch, die Gewalt wählen, der Horizont dahinter aber, den wir anstreben, muss gewaltlos sein.“

Lauren Bastide[1]

 

Während in unserer Schulzeit[2] der Feueralarm als Manifestation der größtmöglichen Bedrohung geübt wurde, sind unsere Kinder mit einer Vielzahl an Bedrohungen konfrontiert.

Gewalt nimmt auch in unserem Alltag stetig zu.

Nicht nur die Zahlen häuslicher Gewalt steigen, auch die Onlinegewalt, die virtuelle Gewalt, kommuniziert über Bilder, die Gewalt auf den Straßen und natürlich Kriege und gewaltvolle Konflikte wie Terror.

Ein möglicher Bürgerkrieg ist eine Bedrohung, mit der sich heute auch europäische Führungsmächte auseinandersetzen.

Viele Menschen verstummen vor dieser wachsenden Bedrohung.

Für Otherwriters haben sechs Autorinnen und Autoren dazu geschrieben:

 

 

[1] Lauren Bastide ist eine französische Journalistin und Autorin, die mit ihrem Podcast „La Poudre“ bekannt wurde. 2022 erschien von ihr „Futur-es“, eine Reflektion über die Möglichkeiten einer Welt ohne Patriachat, 2024 erscheint der Roman „2060“, eine Dystopie in der eine Frau am Tag ihres Todes auf ihr Leben und damit die feministischen Kämpfe des letzten Jahrhunderts zurückschaut.

[2] Hiermit ist das Narrativ der in der Wiedervereinigten Bundesrepublik Aufgewachsenen  gemeint. Andere Erfahrungen sind gerne zu berücksichtigen und eingeladen, sich auszudrücken.

literaturwettbewerbe sind gesellschaftliche luftlöcher

-chor der pflegenden autor*innen*-

 

was mache ich,

wenn ich genommen werde

nicht, wenn ich gewinne, denn

wie überhaupt teilnehmen

 

meist mache ich fehler

beim lesen beim schreiben beim sprechen

bin nervös nicht wegen dem text,

(ach, der text!) hier geht es um teilhabe

konkret: überhaupt präsent sein

(warum geht es nicht auch digital?)

 

to do list vor dem auftritt:

nochmal anrufen & erklären

das einführen der sonde

die pillen der therapeutentermin

(nicht vergessen!)

bis ich alles erledigt habe

ist der auftritt vorbei

 

um mich (von der mental load)

abzulenken baue ich

luftschlösser schicke

bewerbungen zu wettbewerben

aber: was mache ich

wenn ich genommen werde

 

*pflegende autor*innen bezeichnet menschen, die neben ihrer autorenschaft andere versorgen

 

Take Care: Andrea Karimé & Barbara Peveling (IV)

Liebe Andrea,

jetzt ist der Ramadan schon wieder vorbei und ich möchte Dir zum Abschied noch aus meiner Lektüre vom Rand schreiben: Mohamed Mbougar Sarr, der letztes Jahr den Prix Goncourt erhielt – und kannst Du Dir vorstellen, dass ein*e diverse Autor*in ohne Staatsbürgerschaft den deutschen Buchpreis erhält? –, Sarr jedenfalls schreibt Un grand livre n´a pas de sujet et ne parle de rien, il cherche seulement à dire ou découvrir quelque chose, mais ce seulement est déjà tout, est ce quelque chose est déjà tou. – Ein großes Buch hat kein Thema und spricht über nichts, es versucht nur, etwas zu sagen oder zu entdecken, aber dieses nur ist bereits alles, und dieses etwas ist bereits genug.
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Take Care: Andrea Karimé & Barbara Peveling (II)

Liebe Andrea,

deine Erzählung über die Angst, nicht nach Hause zu kommen, hat mich sehr berührt. Und nachdenklich gemacht. Beim Lesen habe ich in mich gehorcht, ob sie auch in mir wohnt, diese Angst. Dabei habe ich entdeckt, dass meine größte Sorge, die ist, dass ein geliebter Mensch nicht zurückkommen könnte. Eine Umkehrung deiner Angst also?
Der Moment, als meine Mutter ins Zimmer trat und sagte, Papa ist tot, ist für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Mein Vater hatte versprochen, sein Jagdgewehr zu verkaufen. Stattdessen hatte er es im Haus versteckt. Er litt schon lange an Depressionen.
Ich war sieben Jahre alt.
Die Angst und ihre Gewalt haben mich seither immer begleitet. Denn der Kreislauf der häuslichen Gewalt beginnt eigentlich meistens mit der Angst des Mannes.
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Other Writers trifft Café Entropy: Barbara Peveling im Café la Coopérative, Paris

Foto: Alain Barbero | Blog Café Entropy

Ich liebe Milchkaffees und sie sind sicher die erste Erinnerung an Caféhausbesuche für mich. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, außer einem Eiscafé und einer Kneipe gab es da nichts. Dann kam ich in die Stadt und die Cafés haben mich schwer beeindruckt. Später, als ich nach Frankreich kam, war ich frustriert, denn ich dachte immer, der Café au lait, wie wir ihn in Deutschland trinken, käme aus Frankreich, allerdings fehlte ihm dort die Milch. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, wie man einen guten Milchkaffee in Frankreich bestellt. Es ist ein Café crème bien blanc.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich, seit du Kinder hast?
Während ich früher das soziale Zusammenkommen in Cafés sehr geliebt habe, vor allem das Freund*innentreffen und Quatschen, das Bandenbilden und Pläneschmieden, gehe ich heute fast nur noch in Cafés, um allein zu sein und zu schreiben.

Wie verändert es deine Café-Zeit, wenn dein Kind / deine Kinder dabei ist?
Die Veränderung ist vergleichbar mit dem Café au lait. Ich werde den Café au lait, wie ich ihn aus Deutschland kenne, nie in Frankreich bekommen. Und ich werde nie dieselbe Ruhe oder Gemeinsamkeit mit Freund*innen im Café erleben, wenn die Kinder dabei sind. Es ist anders, und wenn ich mich auf die Kinder einlassen kann, ist es sogar schön. Sie werden auch immer größer und mit meiner Großen habe ich schon gute Gespräche im Café geführt. Letztlich schmeckt der Kaffee auch überall anders, ein Genuss bleibt er aber, egal wie und wo man ihn trinkt. Man muss eben nur wissen, wie man ihn bestellt.

Eine Kooperation mit Café Entropy – Literatur- und Fotoblog.

Und wenn ich falle? – Texte über Trennungen

Den Gedanken an Trennung kennen wir alle, die Angst davor auch – als Kind, als Eltern, als Mensch überhaupt. Aber können wir unsere Kinder vor dieser Angst bewahren, und sollen wir das überhaupt? Was bedeutet Trennung für Elternschaft und Schreiben? Wie überstehen wir die vielen kleinen Trennungen im Alltag und was passiert, wenn wir die große, letzte Trennung einfach verweigern? Über diese und andere Fragen reflektieren Dmitrij Gawrisch, Chris Roth, Eva Brunner, Sara Ehsan, Clemens Böckmann, Selim Özdogan, Laura Vogt, Slata Roschal und Katharina Bendixen. Vielstimmig erzählen sie vom Verlust und vermitteln vor allem Eines: Es gibt immer ein Danach.

Wer fängt mich auf? von Dmitrij Gawrisch
Was bleibt von Chris Roth
Unvermeidbar von Eva Brunner
Die Zeichen waren … von Sara Ehsan
Trennen im Gesicht von Clemens Böckmann
Menschen sehen sich als autonome Wesen … von Selim Özdogan
Keine Trennung von Laura Vogt
Für einen Monat weg … von Slata Roschal
Verschwinden von Katharina Bendixen

Rarely Asked Questions – Hella Dietz

Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Hella Dietz: Mich interessieren literarische Texte über Elternschaft, wenn sie jene tiefsten Gefühlen oder Ambivalenzen erkunden, denen zu begegnen uns schwerfällt – den schmalen Grenzen zwischen Liebe und Vereinnahmung, Glück und Bedrängnis, Freiraum und Vernachlässigung. Dazu zählen auch Texte, die wie Maren Wursters „Papa stirbt, Mama auch“ Elternschaft gewissermaßen vom Ende her erzählen: Was bleibt? Was erinnern wir Kinder von dieser Elternschaft – und wie prägt sie wiederum unsere eigene?

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft, und wieso kommt Vaterschaft als Thema ungleich seltener vor?
Hella Dietz: In gewisser Weise spiegelt sich in der Dominanz der Mutterschaft ja durchaus die Realität: Elternschaft wird zwar in der Theorie und in manchen urbanen Milieus gleichberechtigt gedacht, im Alltag aber weit stärker von Müttern verantwortet, Sorgearbeit wird (noch immer) häufiger für Frauen zu einer „zweiten Schicht“ (Arlie Hochschild), die gesellschaftlichen Erwartungen richten sich stärker auf Mütter als auf Väter, auch alleinerziehend sind in der großen Mehrzahl die Mütter. Diese Ausgangssituation zeigt sich in den Themen: den Erkundungen abwesender Väter, den Auseinandersetzungen mit Erwartungen an Mütter (etwa in „Ich, eine schlechte Mutter“ von Marguerite Andersen) oder mit Kinderlosigkeit. Sie erklärt, warum für Mütter die schwierigen Voraussetzungen des Schreibens ein wiederkehrendes Thema bleiben, während Väter häufiger betonen (können), dass Kinder keineswegs Kreativitätsbremsen seien. Zugleich ändert sich einiges. Elternschaft wird seit einigen Jahren vermehrt in autofiktionalen Formaten verhandelt – auch von Vätern. Und je mehr auch Vaterschaft als „Erfahrung von biographiestrukturierender Kraft“ (Hans Joas) erlebt wird, desto eher wird sich das Verhältnis auf lange Sicht ausgleichen.

Stehen schreibende Väter vor anderen Problemen als schreibende Mütter?
Hella Dietz: Wenn wir auf die gesellschaftliche Realität, die unterschiedlichen Erwartungen und den vielzitierten Rat Reich-Ranickis an Judith Herrmann blicken: ja. Aber andererseits sind Väter und Mütter ja zwei höchst heterogene Gruppen, die Elternschaft ganz unterschiedlich und keineswegs entlang dieser Zuordnungen erleben – auch engagierte Väter müssen ihr Schreiben mit dem Alltag des Kindes in Einklang bringen, wie beispielsweise Jochen Schmidt in „Zuckersand“ beschreibt. Wichtiger scheinen mir gute Rahmenbedingungen, ein modernes Äquivalent des vielbeschworenen Dorfes, die gutes Schreiben ermöglichen.

Können Sie ein Buch empfehlen, in dem die Herausforderungen der Care-Arbeit literarisch überzeugend dargestellt werden?
Hella Dietz: Gabriele von Arnims „Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“.

Dr. Hella Dietz lebt als Soziologin, Autorin und Beraterin in Berlin. Ihre Kinder kamen 2008 und 2013 zur Welt.