Rarely Asked Questions: Insa Wilke

Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Insa Wilke: Für mich sind es die politischen Dimensionen: Eltern prägen die nächste Generation. Sie geben ihre Erfahrungen oft ungefiltert weiter, sofern sie keine Psychoanalyse gemacht haben. In den politischen Debatten, die wir derzeit führen, geht es immer um ökonomische und soziale Fragen. Die psychologischen Fragen, die Bedeutung von Familie für Kontinuitäten und Veränderungen ist schwieriger zu fassen und bleibt darum oft unterbelichtet. Da spielt die Literatur eine wichtige Rolle. Ines Geipel ist eine Autorin, die viel darüber geschrieben hat.

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft?
Insa Wilke: Weil es ein Thema ist, bei dem lange bestimmte Aspekte ausgeblendet wurden. Das liegt in meinen Augen an zwei Dingen: Frauen wurden in einer von Männern dominierten Literaturwelt lange weder mit ihren Erfahrungen, auch den körperlichen, noch mit ihren Perspektiven zugelassen. Man denke nur an Marcel Reich-Ranickis Äußerungen zu Marlene Streeruwitz. Zum anderen aber – und vielleicht hängt das durchaus auch mit dem ersten Punkt zusammen – wurde Mutterschaft auch von Frauen lange idealisiert und idyllisiert. Es gibt an einem verbreiteten passiv-aggressiven Dominanzverhalten von Müttern ja einiges zu kritisieren und aufzuklären. Da darf man dann auch mal in die Bücher von Söhnen schauen, die unter ihren Müttern gelitten haben. Der Streit um die Marginalisierung und Entmachtung der Hebammen hat da einiges ausgelöst, denke ich.

Haben Sie sich aufgrund Ihrer Elternschaft im Literaturbetrieb schon einmal diskriminiert gefühlt?
Insa Wilke: Ein Kollege hat mir einmal stolz erzählt, dass er einer Mitarbeiterin, die um 16 Uhr ihr Kind abholen musste, mitteilte, in unserer Branche werde 7 Tage die Woche 24 Stunden gearbeitet. Abgesehen davon, dass das Quatsch ist, versteckt sich darin eine fatale Ideologie, die (nicht nur) in der Literaturbranche verbreitet ist: Gut ist, wer sich aufopfert für die Literatur und als Privatmensch quasi nicht mehr existiert. Dem sollte sich niemand beugen.

Insa Wilke lebt als Literaturkritikerin in Berlin.

Rarely Asked Questions – Bettina Fischer

Wie wird Elternschaft als literarisches Thema vom Publikum aufgenommen?
Bettina Fischer: Viele Lesende sind noch immer durch die überkommene Idee geprägt, dass Literatur von Männern relevanter sei als die von Frauen. Und obwohl viele Menschen identifikatorisch lesen, möchten sich einige nicht eingestehen, dass die Sujets Elternschaft und Familienalltag sie ansprechen. Es wirkt eben nach, wenn der literarische Kanon und die Vorstellungen von gesellschaftlicher Relevanz über Jahrzehnte von Menschen geprägt werden, die im Familienalltag nicht präsent waren. Da galt Elternschaft als literarisch unwichtig oder unergiebig – Care-Arbeit eben … Ein Teufelskreis, der nachwirkt. Heute sind die Kriterien für Relevanz und Qualität hoffentlich beweglicher geworden, die Texte selbstbewusster.

Kann der Literaturbetrieb familienfreundlicher gestaltet werden, und wenn ja wie?
Bettina Fischer: Sicherlich. Ein konkretes Beispiel ist die Schaffung von Schreibräumen – also Räumen der Konzentration fürs Schreiben. In Köln haben wir, angeregt durch das Modell in Hamburg, 2017 einen ersten realisiert. In der Kulturszene wird viel von Atelierräumen gesprochen; Schreibräume sollten auch ein Thema werden. Als Veranstalterin denke ich darüber nach, dass es eine Herausforderung ist, auf Lesereise zu gehen, wenn man kleine Kinder hat. Natürlich ist das nicht nur ein Problem der Bedürfnisse, sondern auch der Organisation. Wie lassen sich die Anforderungen des Betriebs mit der persönlichen Situation vereinbaren? Durch unkompliziertere Kinderbetreuung, durch Umdenken und durch Anerkennung, dass Elternschaft ein ideologisch geprägter Begriff ist. Vielleicht hilft auch die Digitalisierung, die Veranstaltungen ohne Ortswechsel ermöglicht.

„Wir hatten schon Stadtschreiber*innen, die im Garten ein Zelt für die Familie aufgestellt haben“, antwortete uns eine Kulturbehörde, als wir uns erkundigten, ob man zum Aufenthaltsstipendium mit Familie anreisen kann. Haben Sie ein Zelt für uns?
Bettina Fischer: Obwohl ich immer auch Literatur von Frauen gelesen habe, bin ich von einem männlich dominierten Literaturkanon geprägt worden und habe mir das erst allmählich klargemacht. Seit geraumer Zeit achten wir verstärkt darauf, unser Programm einigermaßen ausgewogen zu gestalten: Dabei spielt aber natürlich nicht nur die Frage des Geschlechts der Schreibenden eine Rolle, sondern auch die Themen, die Bekanntheit, die Genres, die Herkunft. Da schlägt das Pendel mal in die eine oder andere Richtung aus. Aber: Ja, bei uns gibt’s nicht nur ein Zelt im Garten, sondern einen Raum im Haus! Der andere Aspekt dieser Frage ist für mich, wie wir die Arbeit als Veranstalter*innen organisieren. Das gehört auch dazu, wenn man für Menschen mit Familie einen guten Raum im Literaturbetrieb schaffen möchte. Veranstalter*innen-Arbeit ist zeitlich fordernd. Bei uns haben alle Kinder. Ich hoffe, dass die es irgendwann gut finden, dass ihre Mütter (und Väter) interessanten Jobs nachgehen. Live ist live – auch wir müssen Lösungen für die Kinderbetreuung finden. Meine Tochter hat schon auf den letzten Stuhlreihen im Literaturhaus geschlafen. Heute ist sie elf … das Literaturhaus findet sie ok, aber schöner ist es, wenn wir abends alle gemeinsam zuhause sind.

Bettina Fischer verantwortet seit 2012 die Programmleitung im Literaturhaus Köln. Ihre Tochter kam 2009 auf die Welt.

Rarely Asked Questions: José F. A. Oliver

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft? Und wieso kommt Vaterschaft als Thema seltener vor, oder ist das gar nicht so?
José F. A. Oliver: Ich vermute, dass die „traditionellen“ Vorstellungen von Familie und deren überlieferten Rollenverteilungen (Mutter/Kind/Vater) oder (Kind/Mutter/Vater) in unseren gesellschaftlichen Breiten immer noch am stärksten ausgeprägt sind im Vergleich zu anderen Bindungen des Zusammenlebens. Insofern, voilà: die „Mutterrolle“, und voilà: die „Vaterrolle“. Zumindest hier im ländlichen Raum nicken die meisten Menschen sicherlich ohne großen Erklärungsbedarf, wenn beispielsweise das Wort „Mutterschutz“ zur Sprache kommt … „Vaterschutz“ ist dann doch (noch) eher selten anzutreffen – als Begriff – und in der Tat. Wenngleich es immer mehr Väter gibt, die sich für eine „Elternzeit“ entscheiden. Vielleicht trägt diese sich verändernde Wirklichkeit der nicht mehr so absolut zugewiesenen Aufgaben künftig dazu bei, dass auch mehr zu den „Vaterschaften“ und deren Herausforderungen publiziert werden wird. Überhaupt sollte – nein, muss man über viele Begrifflichkeiten nachdenken, die mit dem Bedeutungshof des Wortes „Familie“ zusammenhängen. Ab wann und unter welchen Aspekten ist jemand Familie? Das wäre nur eine der vielen Fragen.

Stehen schreibende Väter vor anderen Problemen als schreibende Mütter?
José F. A. Oliver: Je nachdem, welche Aufgaben sie als Väter oder Mütter in der Verantwortung für das gemeinsame Kind übernehmen. Kümmern sie sich in erster Linie um das Kind oder um ihre Berufe, oder können sie beides gar miteinander vereinbaren? Letzteres stelle ich mir schwierig vor, wenn nicht gar schier unmöglich. Es kommt natürlich auch auf das Alter des Nachwuchses an. Sind die Kinder im Babyalter, in dem sie noch gestillt werden, beispielsweise. Väter können ja nicht stillen – zumindest nicht auf natürlichem Weg, ich meine von den körperlich-biologischen Voraussetzungen her. Wenn die Kinder dann größer sind, stellen sich wahrscheinlich dieselben Probleme ein, wenn sich die Väter um die Kinder kümmern und die Mütter einem Beruf nachgehen: Wann Zeit finden, um zu schreiben, wenn das Kind noch nicht im Kindergarten ist, beispielsweise. Tatsache ist aber auch, dass sich bisher weit weniger Mütter (in einem bestimmten Alter) um ein Aufenthaltsstipendium des Hausacher LeseLenzes beworben haben als junge Väter. Ist das Zufall oder Ausdruck gesellschaftlicher Wirklichkeiten?

Kann der Literaturbetrieb familienfreundlicher gestaltet werden, und wenn ja wie?
José F. A. Oliver: Er kann nicht nur, er muss (!) familienfreundlicher gestaltet werden. Eine Möglichkeit wären „freie“, d. h. ortsungebundene „Familienstipendien“ für Autor*innen, ohne Auflagen und, wo es entwickelbar wäre, ohne Präsenzpflicht. Im Rahmen des Hausacher LeseLenzes arbeiten wir an diesem Vorhaben und versuchen ein solches „Familienstipendium“ in Hausach zu realisieren. Ich hoffe, dass uns das in den kommenden Jahren gelingen wird. Es ist eine Herausforderung, weil das Bewusstsein bei den meisten Geldgeber*innen oder Förderinstitutionen fehlt, dass viele Autorinnen, ja, vor allem Autorinnen, ein Stipendium nicht antreten könne, weil sie die Verantwortung für ihre Kinder tragen oder sich gar nicht erst bewerben … Die Gründe liegen, wie bereits erwähnt, auf der Hand.

„Wir hatten schon Stadtschreiber*innen, die im Garten ein Zelt für die Familie aufgestellt haben“, antwortete uns eine Kulturbehörde, als wir uns erkundigten, ob man zum Aufenthaltsstipendium mit Familie anreisen kann. Haben Sie ein Zelt für uns?
José F. A. Oliver: Immer. Wobei ich Nicht-Zelt-Lösungen vorziehe. Das Bewusstsein prägt auch die Architektur der Phantasie. Im Augenblick lebt der Amanda-Neumayer-Stipendiat des Hausacher LeseLenzes für Kinder- und Jugendliteratur in der Hausacher Stipendiat*innenwohnung, und zwar mit seiner Familie. M. ist fünf Monate alt … Tobias Steinfeld und seine Frau und das Baby sind ganz ohne Zelt hier und es funktioniert, ohne dass sie den Garten zum Schlafen benutzen müssen.

José F. A. Oliver lebt als Autor in Hausach, wo er 1998 den Hausacher LeseLenz gegründet hat, den er seitdem leitet. Der Hausacher LeseLenz vergibt jährlich auch drei Aufenthaltsstipendien.

Rarely Asked Questions: Julia Eichhorn

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft? Und wieso kommt Vaterschaft als Thema seltener vor, oder ist das gar nicht so?
Julia Eichhorn: Das ist meines Erachtens ein Nachholen, eine überfällige Entwicklung. Lange haben weniger Frauen geschrieben, lange Jahre Schriftstellerinnen mit Kind ihre Mutterschaft in den Hintergrund gestellt. Nun kommt eine neue Generation, eine neue Offenheit und das Bedürfnis, Muttersein zum Thema zu machen, über Muttersein zu lesen. Für Männer gab es schon immer eine größere Selbstverständlichkeit, beides zu sein, Künstler und Vater, und weniger Zerrissenheit zwischen dem Alltag als Vater und Autor, es gab und gibt weniger Infragestellen der eigenen Position.

Stehen schreibende Väter vor anderen Problemen als schreibende Mütter?
Julia Eichhorn: Ja, das Problem der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie stellt sich ihnen meist viel weniger. Es ist vielleicht vor allem ein Problem jener Väter, bei denen das anders ist, sich Gehör zu verschaffen.

Kann der Literaturbetrieb familienfreundlicher gestaltet werden, und wenn ja wie?
Julia Eichhorn: Ja, unbedingt, vor allem bei der Förderung, vor allem bei Aufenthaltsstipendien, sollte darauf geachtet werden, dass auch Eltern mit Kindern teilnehmen und arbeiten können, zum Beispiel durch eine Betreuungsmöglichkeit der Kinder. Das ist aber nur ein sehr praktisches Beispiel. Die vielen Schranken im Kopf gilt es langfristig aufzubrechen.

Haben Sie sich aufgrund Ihrer Elternschaft im Literaturbetrieb schon einmal diskriminiert gefühlt?
Julia Eichhorn: Ja, jedes Mal, wenn ich mir überlege, ob ich die Kinder überhaupt erwähnen soll. Und bei den mitleidigen Blicken oder Nachfragen, nachdem ich sie erwähnt habe, auf der Messe oder bei Abendveranstaltungen, wie lange ich die Kinder „alleine“ lasse.

Können Sie ein Buch empfehlen, in dem die Herausforderungen der Care-Arbeit literarisch überzeugend dargestellt werden?
Julia Eichhorn: „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling.

Julia Eichhorn gründete 2019 die Julia Eichhorn Literaturagentur und lebt in Berlin. Ihre Kinder kamen 2014 und 2018 auf die Welt.