Anekdoten aus Schöppingen

Wir erreichen das Künstlerdorf am späten Nachmittag. Es dämmert bereits, in der hauseigenen Bibliothek brennt schon Licht. Ein junger Mann hat seinen Arbeitsplatz hinter einer bodentiefen Glasscheibe eingerichtet. Illuminiert von der Schreibtischlampe sitzt er wie in einem Schaufenster. Er sieht, dass wir auf den Eingang zusteuern, steht auf und öffnet die Tür. Er erklärt uns, wie wir an die Schlüssel kommen. „Wir treffen uns abends im Kaminzimmer.“, sagt er. „Kommt doch vorbei. So gegen elf.“ „Klingt gut“, sage ich, wohl wissend, dass das nicht passieren wird. Unsere Tage beginnen zwischen fünf und sechs, und um 23 Uhr liegen wir längst im Bett.
Ich habe dem Künstlerdorf vorab mitgeteilt, dass ich mit Anhang anreisen würde, und so hat man uns eine große Wohnung freigehalten. Sogar ein Kinderbett finden wir darin. Ich darf einen weiteren Schreibtisch in die Bibliothek stellen und mir dort einen Arbeitsplatz einrichten. Den Autor, der im Schaufenster arbeitet, bekomme ich nur selten zu Gesicht. Und an Arbeit ist in den ersten Tagen sowieso nicht zu denken. Erst einmal: Babybadewanne kaufen. Spielplätze finden. Einen Rhythmus etablieren, der uns allen entspricht. Und: einen Infekt überstehen. Die zweite Nacht in Schöppingen endet nach drei Stunden. Der Kleine sitzt im Bett und übergibt sich. Im Schlafanzug eile ich zu den Gemeinschaftsräumen, um frische Bettwäsche zu besorgen. Auf dem Weg lerne ich die anderen Stipendiaten kennen. Sie sitzen vor dem Kamin, rauchen, trinken, unterhalten sich. Ich grüße und wühle in den Schränken nach Bezügen und Laken.
Während meine Frau und ich uns zwischen Laptop und Spieledecke abwechseln, verpassen wir so gut wie jede gemeinschaftliche Aktivität. Den allabendlichen Treff im Kaminzimmer. Die nächtlichen Besuche in den wenigen Bars des Ortes. Die wöchentlichen halb ironisch gemeinten, halb sportlichen Ausflüge auf die Kegelbahn. Den von reichlich Stroopwafels und ähnlichen Substanzen flankierten Trip ins deutsch-niederländische Grenzgebiet. Dass ich aufs Nachtleben verzichte, macht mir nicht zu schaffen, ich habe mich längst damit abgefunden. Aber die Erkenntnis, dass ein nicht zu verachtender Aspekt des Stipendiums an mir vorbeigeht – der Austausch mit anderen Autoren –, stimmt traurig.
An einem Wochenende verbringen wir mehr Zeit als sonst mit einem Mitstipendiaten – er hat Besuch von seiner Frau und den drei kleinen Kindern. Sie kümmert sich sechs Monate lang alleine um die drei, während der Vater Kunst macht. Er ist ein aufstrebender Komponist und seine Auftragsarbeiten entstehen im Akkord, ausufernde Schaffensperioden wechseln mit Phasen großer Erschöpfung. Er ist ein Künstler, wie er im Buche steht, berufen dazu, sich für die Musik zu verzehren – und ein Vater, den eine zweistündige Autofahrt von seiner Familie trennt.
Wir können die anderen zu einem Kaffee- und Kuchentreff am Nachmittag überreden, manchmal treffen wir uns auch schon vor 23 Uhr. Das Gefühl, nicht wirklich dazu zu gehören, bleibt. Ich kann nicht sagen, ob es von den anderen ausgeht oder ob ich selbst es mir einrede.
Dann kommt der letzte Abend. Die Stipendiaten grillen, Treffpunkt achtzehn Uhr – wieder eine Ausnahme für uns. Wie die anderen Künstler reisen wir am nächsten Tag ab. Viele unserer Mitstreiter müssen früh fort, sie haben noch einiges zu erledigen. Wir bleiben sitzen, bis zur Feuerstelle reicht der Empfang des Babyfons und unsere Koffer sind längst gepackt. Irgendwann gehe ich eine letzte Runde um das Haus. Das bodentiefe Fenster der Bibliothek ist erleuchtet, der Schreibtisch verwaist. Aber es ist ja auch schon spät.