Es gibt die …

… Leute, die darüber reden, wie entschleunigt ihr Leben jetzt ist. Und was sie plötzlich alles schaffen, Corona sei Dank: den Keller aufräumen, alte Bekannte anrufen, Sprachen lernen, und das neue Altsaxophon spielt sich so weich wie Butter.
Ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Wobei das auch nicht ganz stimmt. Meine Tage zerfallen, was die Geschwindigkeit angeht, in zwei Hälften. In der Arbeitshälfte versuche ich, alles doppelt so schnell zu erledigen wie sonst. In der Hälfte, die ich mit dem Kind verbringe, soll alles ganz langsam sein.
Das Kind blockiert sofort, wenn es unter Zeitdruck gerät. Wahrscheinlich sind alle Kinder so. Und die meisten Erwachsenen. Kaum habe ich einmal unglücklich Jetzt-müssen-wir-uns-aber-beeilen gesagt – zack, ist der ganze Tag im Eimer. Das Kind ist also sehr zufrieden mit einer Lebensphase, in der es morgens nicht zu einer bestimmten Zeit in der Kita sein muss, in der nachmittags keine Verabredungen einzuhalten sind, und es ist noch nicht einmal schlimm, falls man abends später ins Bett kommt. Wenn wir das Buch heute nicht vorlesen, lesen wir es morgen vor. Wenn wir heute doch keine Nudeln selbst machen wollen, weil das immer zwei Stunden dauert, dann nehmen wir eben die aus dem Supermarkt.
Ja, die langsamen Hälften der Tage sind schön. Auch die hektischen Hälften der Tage sind machbar.
Ist es das scharfe Umschalten, das mich so erschöpft?
Ich kann nicht viel sagen gerade. Alles bleibt flach, ich bekomme wenig mit, kann keine Entscheidungen treffen, die über die nächste Woche hinausgehen. Ich versuche immer nur, während des halben Tages mit der Arbeit und während des halben Tages mit dem Kind „genügend gut“ zu sein, wie es in Elternratgebern gern heißt.
Es scheint in dieser Zeit eine Lupe, nein, ein Brennglas über allem zu hängen: über mir, über meiner Arbeit, darüber, wie ich mich als Mutter schlage (was ist das eigentlich für eine Formulierung), über meiner Paarbeziehung, über der Nähe zu meinen Freunden. Alles, was schon vorher da oder eben nicht da war, wird deutlicher. Alles zeigt sich. Nur: So genau wollte ich es vielleicht gar nicht wissen.
Mir fehlt das Schnelle im Langsamen, und vor allem fehlt mir das Langsame im Schnellen. Arbeiten ist jetzt nur noch Arbeiten, Schreiben ist jetzt nur noch Schreiben. Mit dem Blick auf die Uhr die Seite füllen. Mir fehlen die überraschenden Momente, die fast immer aus einem scheinbaren Nichtstun entstehen und in denen die Welt einen Sprung bekommt.
Wenn es sie allerdings doch gibt, dann sind diese Momente, weil sie gerade so selten sind, noch eigenartiger als sonst. Vor ein paar Tagen habe ich den Podcast von Christian Drosten gehört. Es ging um eine wichtige Impfstudie, für die acht Rhesusaffen geimpft und danach mit dem Virus infiziert wurden, was wirklich sehr selten passiert, es ging um wissenschaftliche Details, und plötzlich fiel der Satz: „Man hat die Tiere danach geopfert und seziert.“ Hat er das wirklich gesagt, dachte ich? „Geopfert?“ Im Podcast folgte die Erklärung, dass die Affen unter Narkose getötet wurden, dass man sich danach die Lunge genau angeschaut hat, auch alle anderen Organe der Tiere, damit man aus diesen Experimenten möglichst viele Daten herausholt – und dann kam es noch einmal: „wenn man für so eine Impfstudie schon solche Tiere wie Affen opfert.“
Keine Metapher, keine lyrische Überhöhung, kein Pathos. Nein, das wird offenbar tatsächlich so genannt. Selbst im wissenschaftlichen Kontext heißt das Töten von Versuchstieren „Opfern“.
Ich stand vor dem Radio, und der Sprung in der Sprachebene – dieser kleine Sprung in der Welt – hat dafür gesorgt, dass ich aufgewacht bin und mich lebendig gefühlt habe. Plötzlich war ich in der anderen Tageshälfte. Plötzlich war ich das staunende Kind.

Wie viele Leute …

… seit der Zuspitzung der Coronakrise schon so was zu mir gesagt haben wie: ich genieße ja die Entschleunigung, ich genieße das ja, zu Hause zu lesen, mich auszuruhen etc. Ich bekomme dann richtig schlechte Laune und versuche freundlich zu widersprechen und nicht ausfallend zu werden.

Denn Entschleunigung ist nämlich nicht jedermanns* Sache. Ich finde Entschleunigung sehr anstrengend, auch ohne Coronavirus. Ehrlich gesagt: ich hasse Entschleunigung. Genauso wie ich den Begriff Achtsamkeit hasse. Das bedeutet nicht, dass ich nicht gelegentlich bis regelmäßig auf diese kapitalistischen Mechanismen hereinfalle, sie genieße und verachte. I‘m part of it!

Entschleunigung fällt bei mir unter die Sektion Wellness. Dass man sich ausruhen muss, wenn man sich angestrengt hat, ist klar, dass man eine Therapie machen kann, wenn man unter psychischen Druck gerät, weil die Welt inkl. Wirtschaft nichts von Müßiggang versteht, auch. Im Februar 1964 warnte das amerikanische Life-Magazine vor einem bevorstehenden massiven Zeitüberfluss in der modernen Gesellschaft, der gravierende psychologische Probleme aufwerfe: „How to Take Life Easy?“ („Beschleunigung“, Hartmut Rosa, 2005) bleibt die große Frage unserer Gegenwart.

Aktuell treibt ein Virus sein Unwesen, das die ganze Welt durcheinanderbringt, zum ersten Mal wurde eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen. Zwischen Willkür, Wissenschaft, Bauchgefühl und Zuversicht versucht die Menschheit weltweit irgendwie mit der Pandemie klar zu kommen und dann sagen Leute ernsthaft: ich finde diese Entschleunigung ja ganz nett?

Ich finde diese Entschleunigung richtig beschissen. Ich liebe es morgens aufzustehen, meinen Kaffee zu kochen, zu frühstücken, Radio zu hören, mein Kind in die Kita zu bringen, dann entweder zur Lohnarbeit zu hetzen oder ins Atelier zu gehen, mal gestresst, mal easy, über die Welt nachzudenken, was man besser machen kann, was nicht so gut läuft, was überhaupt so läuft. Ich führe ein privilegiertes Leben im Vergleich zu vielen anderen Menschen. Jetzt, während dieses Ausnahmezustandes, wird mir das nochmal klarer. Ich bin froh und dankbar, dass ich eine schöne Wohnung habe, bisher gesund bin, zwei nette Mitbewohner habe, einen ausgesuchten, einen gezeugten, ich habe die Möglichkeit ins Internet zu gehen, meinen Kühlschrank voll zu knallen, mir leckere Nudeln mit Tomatensoße zu kochen und mit meinem kleinen Sohn alle seine Autos und Pferde auf sein Bobby Car zu stapeln oder mit ihm in den Wald zu fahren oder an meinem Schreibtisch diesen Text zu schreiben, mein Geld reicht für den kommenden Monat etc.

Verdammt, habt ihr den Schuss nicht gehört? Eben habe ich mich vor der Tür mit einer Künstlerin unterhalten: sie verstehe nicht, warum alle so einen Stress machen würden, es wäre doch nur wie eine Grippe … diesen Satz habe ich im Februar gesagt, ja. Ich habe es unterschätzt, aber wenn man die Medien verfolgt, ist doch hoffentlich klar, dass das hier keine Grippe ist. „Ach, ihr habt zu?“, fragt sie meine Nachbarin, die eine Kneipe hat. „Dann klappt das nicht mit der Party am Sonntag?“ Ehm, nein. ES KLAPPT NICHT. Es klappt so einiges nicht. Mein ganzes Leben ist wirr. Ich bin wirr. Ich bin traurig, dass Ausstellungen nicht stattfinden können. Ganz banal, ich-bezogen. Ich bin traurig, dass ich mich nicht mehr in Freiheit bewegen darf, ganz im Klaren darüber, dass mein Alltag besonders war. Ich bin traurig, dass ich nicht mit meiner Freundin ins Restaurant gehen kann, weil das für mich selbstverständlich war. Ich bin traurig, dass ich nicht weiß, wie ich in den nächsten beiden Monaten mein Geld verdiene.

Und nun ja, coronale Entschleunigung okey. Meinetwegen freue ich mich für euch, die sich zu Hause chillen können, Bücher lesen, Sachen produzieren … das ist alles cool; ich sehe auch Chancen in Krisen, versuche auch, das Beste draus zu machen, und bin dankbar für die Menschen, die grade alles am Laufen halten, die aktuell an der griechischen Grenze helfen und noch überall, die sich politisch einbringen und Petitionen starten, die Nachbar*innen helfen und so weiter.

Aber ich hoffe inständig, dass das alles schnell vorbei geht.