Rarely Asked Questions: Fabienne Imlinger

Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Fabienne Imlinger: Die Autorin und Buchhändlerin A N Denvers sagte einmal: „Moms are not a niche – they literally make ALL THE PEOPLE.“ Insofern finde ich die Kategorisierung von Elternschaft als Nischenthema – das jetzt irgendwie entdeckt wird – erstaunlich. Literatur hat sich doch immer schon mit dem Thema Elternschaft auseinandergesetzt und mit den spezifischen Konflikten, die darin liegen. Worum geht es denn, um jetzt mal ganz weit auszuholen, in den antiken Geschichten um Ödipus, Antigone oder Medusa? Neu ist – das beantwortet vermutlich auch gleich die nächste Frage – aber womöglich, dass andere Perspektiven hinzugekommen sind. Etwa die von Frauen*, die über Mutterschaft schreiben, oder umgekehrt von Töchtern, die über die Beziehungen zu ihren Müttern oder Vätern schreiben. Da fallen mir sofort Elfriede Jelineks „Klavierspielerin“ oder Lucy Frickes Roman „Töchter“ ein. Hinzugekommen ist auch Thematisierung nicht-heteronormativer Elternschaft, wie etwa in Maggie Nelsons „The Argonauts“.

Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft, und kommt Vaterschaft als Thema möglicherweise seltener vor?
Fabienne Imlinger: Ich vermute, es gibt aktuell einen Markt bzw. eine Nachfrage für Bücher, die sich mit dem Thema Mutterschaft auseinandersetzen – und zwar insbesondere Bücher von Frauen. Dass sie dies auf eine bestimmte Weise tun, ist meiner Meinung nach neu. Da werden Tabus gebrochen, Rollenbilder, Klischees und gesellschaftliche Erwartungen hinterfragt. Aber ich glaube, man darf sich auch nicht täuschen: Diese Bücher kriegen vielleicht mehr Aufmerksamkeit (oder werden eben überhaupt veröffentlicht), aber insgesamt scheinen mir das immer noch nicht gar so viele Bücher zu sein. Die Annahme, es gäbe jetzt mehr Bücher zum Thema, kann auch schnell umgemünzt werden in: „Es reicht jetzt auch wieder, wir haben schon genug davon.“ Ich muss daran denken, was Maggie Nelson einmal im Anschluss an eine Lesung aus „The Argonauts“ erzählt hat – nämlich dass jemand ihr einmal gesagt habe, es gäbe genug Schilderungen von Geburten in Romanen, warum müsse sie das jetzt auch noch so ausführlich machen? Tatsächlich aber fiel ihr so gut wie keine vergleichbare Schilderung einer Geburtsszene ein. (Mir übrigens auch nicht.) Ob das Thema Vaterschaft weniger vorkommt, da bin ich mir nicht sicher – vielleicht ist das wieder eine Frage der Perspektive. Was vermutlich weniger vorkommt, sind Vater-Figuren, die Care-Arbeit übernehmen oder sich gar zum Großteil um Kinder kümmern, und zwar selbstverständlich und nicht so, dass das schon die eigentliche Geschichte ist. Und wenn das mal passiert, spontan fällt mir da z. B. Karl Ove Knausgard ein, dann nimmt die Care-Arbeit in diesen Tausend-Seiten-Büchern gefühlte drei Seiten ein.

Kannst du ein Buch empfehlen, in dem die Herausforderungen der Care-Arbeit literarisch überzeugend dargestellt werden?
Fabienne Imlinger: Eines auszuwählen fällt schwer, deshalb hier gleich zwei, zuerst „A life’s work: on becoming a mother“ („Lebenswerk“) von Rachel Cusk. Als das Buch in England 2001 erschien, gab es Stimmen, die meinten, man solle Rachel Cusk das Sorgerecht für ihr Kind entziehen. Als die deutsche Übersetzung 2019 erschien, wurde Cusk gefeiert für die Schonungslosigkeit, mit der sie ihre eigenen Erfahrungen und die gesellschaftlichen Verhältnisse und Erwartungen im Hinblick auf Mutterschaft beschreibt. Wie in ihren Romanen ist Cusk auch hier eine unvergleichliche Erzählerin und Meisterin der klugen, nuancierten Beobachtungen. Als zweites möchte ich „Chanson douce“ („Dann schlaf auch du“) von Leila Slimani empfehlen. Das Buch liest sich wie ein Psychothriller: Am Anfang steht die Ermordung von zwei Kleinkindern durch ihr Kindermädchen Louise. Warum es dazu kam, versucht dieser Roman nicht zu erklären. Slimani beschreibt vielmehr in starken Bildern, wie es dazu kam: Sie zeichnet subtil die Machtverhältnisse nach und beleuchtet die Art und Weise, wie sich Klasse und race in Care-Arbeit einschreiben.

Fabienne Imlinger arbeitet als Literaturwissenschaftlerin und Autorin in München. Gemeinsam mit Martina Kübler betreibt sie den Podcast „Ich lese was, was du auch liest“. Ihr Kind kam 2015 zur Welt.