Take Care: Clemens Böckmann & Sarah Diehl (II)

Liebe Sarah,

Danke für deine Antwort.

Ich will versuchen ein paar Sachen zu sammeln:

Warum ich gerade dich ausgesucht habe? Weil ich mich gefragt habe, ob sich dein Verhältnis zu Elternschaft im Laufe der Jahre nochmal verändert hat? Und weil ich mich – natürlich auch in Anlehnung an „Die Uhr, die nicht tickt“ – gefragt habe, wie sich manche, sehr persönliche Entscheidungen im Laufe der Jahre verhalten. Gleichzeitig schrecke ich davor zurück, gesellschaftliche Zusammenhänge auf persönliche Entscheidungen herunter zu brechen. Nichts gilt es mehr zu verteidigen (wohl eher erstmals zu erkämpfen), dass alle ihr Leben so leben können, wie sie es für richtig halten. Und ein zentrales Moment bleibt dabei wohl die Entscheidungen der anderen zu akzeptieren.

Was aber bedeutet das dann für Kindererziehung? Lässt sich das überhaupt so umsetzen/anwenden? An dem Punkt stell ich fest, dass ich immer noch nichts weiß – selbst jetzt, wo das Kind mittlerweile 3 ist. Immer habe ich das Gefühl, dass seine Anwesenheit meine in guter Weise in Frage stellt.

Und was weiß ich schon sicher, außer, dass ich zwei Füße habe, manchmal Hunger, manchmal Durst und manchmal müde bin? Wie z.B. schläft man? Und wie z.B. liebt man? Das sind dann eher Fragen, die weniger (bis eigentlich gar nicht) am Kind orientiert sind. Zumindest fürs Erste. Vielleicht ist eben auch das ein Moment, das Kindererziehung nicht selten so gruselig werden lässt: die Fantasie der eigenen Macht. Die Einbildung, Bedürfnisse setzen und gewichten zu können. Das Fantasma, einen allgemeinen Zustand der Ohnmacht einseitig auflösen zu können. Ein Schrecken ohne Ende.

Und dann verbringe ich Tage, Wochen, Monate, Jahre mit meinem Kind und sehe mich hinterherfliegen, durch das Unterholz robben, Sand essen, Bananen zerdrücken und Schafe zählen. Es kommt mir vor, als wäre es ein guter Bekannter auf einem Trip, und ich passe darauf auf, dass niemand dabei zu Schaden kommt. Dabei wird dann das Verhältnis jederzeit neu justiert, wer eigentlich wen in welche Richtung anleitet.

Auch eigentlich ein Gemeinplatz, weil es doch jede Interaktion ist, die uns eben das eröffnet: einen anderen Blick.

Was genau würde das für dich bedeuten: die Aneignung der Erfahrung von Mutterschaft?

Was genau meinst du mit „ich fühle mich manchmal parasitär“?

Liebe Grüße

Clemens

 

Lieber Clemens,

na, dann freut es mich, dass du mich angeschrieben hast, weil neben dem ganzen theoretischen Kuddelmuddel, das ich seit Jahren zu sortieren versuche, es auch schön ist, persönlicher über das Thema zu sprechen. Die Lust daran kommt auch daher, weil ich nach meinem Buch „Die Uhr, die nicht tickt“ so viele Anfragen bekommen habe, dass ich nun seit ein paar Monaten Seminare gebe, in denen Leute klären können, ob sie eigene Kinder möchten oder nicht. Und ich bin immer wieder sehr überrascht, wie bodenlos und individuell das Thema ist, wenn ich jetzt mit meinen LeserInnen zusammensitze und wir en detail ihren Zugang dazu freischaufeln.

Parasitär fühle ich mich zum ersten, weil ich den einfachsten und angenehmsten Teil der Beziehung zu Kindern haben kann, ohne so viel Arbeit drum herum leisten zu müssen, bzw. mein Leben, meine Freiräume, mein Begehren etc. um die Anforderungen der westlichen Kultur um Elternschaft herum organisieren zu müssen. Das betrifft meine Beziehung zu meinen Freund:innen mit Kindern ebenso wie meinen Lovermensch, der zwei Kinder hat. Außer dass wir viel Zeit auch im Voraus planen müssen, gibt es da eigentlich keine Beschwernisse für mich.

Was mich in den Seminaren sehr überrascht hat, war, wie viele Frauen dabei erzählen, sie hätten Angst, ihre Freundinnen zu verlieren, wenn die andere kinderlos bleibt oder Mutter wird. Ich habe bei meinen Freundinnen nicht erlebt, dass das etwas ist, was einen entzweien muss, und frage mich auch, inwieweit das eine selbsterfüllende Prophezeiung oder Abwehrreaktion ist.

Es gibt aber auch bei vielen Frauen die Angst, den Kindsvater als Liebespartner zu verlieren. In Gesprächen mit Freundinnen fiel uns auf, dass ich meinen Freund als Vater mehr begehre, erotisch und berührend finden kann, als sie es mit ihren Freunden/Kindsvätern empfanden. Ich konnte diesem Begehren freien Lauf lassen, wie organisch er mit den Kindern ist, wie fürsorglich und körperlich, lustvoll und verspielt er ist, während ihr Begehren zu ihrem Freund von arbeitsteiligen Grabenkämpfen immer mehr verschüttet wurde. Als ich seine Kinder kennenlernte, war mir sein Körper schon als Liebender vertraut und ich entdeckte ihn neu als Körper, an dem plötzlich zwei Kinder dran hängen. Das war irgendwie phantastisch. Gleichzeit gibt es, da wir keine gemeinsamen Kinder haben und sein Co-Parenting mit der Mutter sehr loyal, gerecht und freundlich funktioniert, auch Zeit und Raum nur für uns, der Raum des reinen Eros ist uns trotz seiner Kinder nicht genommen und kann sogar in das Familiäre eingebunden werden: Wenn wir gemeinsam Nachmittage/Abende verbringen, bringe ich ihn ins Bett, nachdem er seine Kinder ins Bett gebracht hat.

Parasitär zum Zweiten, weil ich durch meine Kinderlosigkeit einem (kindlichen) Tagträumen, Slacken und Wuchern nachgehen kann, ohne von Kindergarten-, Schul- Urlaubs- etc. -zeiten und Formalitäten eingepfercht zu sein. Ich kann den Qualitäten des Kindseins nachgehen, weil ich nicht für jemanden den Erwachsenen spielen/sein muss. Ich finde es eh schön, so in den 40ern zu sehen, was für ein Mensch man ist. In dem Alter kann man das besser nachvollziehen anhand dessen, was man tatsächlich getan hat oder tun wollte, und kann das weniger vor sich verstecken. Man sieht klarer, ob das Leben, das man bisher lebte, einem eigentlich entspricht oder eher Schablonen der Karriere- und Familienplanung entsprach, denen man glaubte, mehr oder weniger bewusst entsprechen zu müssen. (Mit Kindern lernt man das wahrscheinlich auch nochmal neu über sich) Ich verstehe rückblickend zum Beispiel, dass ich durch und durch Anarchistin bin – um es mal in ein verständliches Label zu packen –, was für eine Beziehung zu Kindern vielleicht manchmal hilfreich sein kann, aber eben nicht für die Strukturen, in die ein Leben in unserer Gesellschaft mit Kindern zwischen Mutterideal, genug Geld verdienen und Kita-Öffnungszeiten gepresst ist. Ich habe versucht, mich weitestgehend den „Erwachsenenstrukturen“ zu entziehen, und sehe, dass gerade das Zusammenleben mit Kindern einen da reinzwingen würde, mehr Geld verdienen, Schulden machen, Zeitbeschränkungen und am Ende einen anderen hilfsbedürftigen Menschen in diese Wettbewerbsmühlen reinzwingen zu müssen. Ich erinnere, dass ein paar Gesprächspartnerinnen von meinem Buch mir erzählen, dass sie die Beziehung zu einem Kind uninteressant fänden, weil sie so krass hierarchisch ist. Eine Mutter erzählte mir, dass sie es eigentlich ankotzt, wie manipulativ sie mit ihrem Kind umgehen muss, damit der Tagesablauf einigermaßen klappt. Das muss so nicht sein, aber es ist eine große Baustelle, die viel Kraft kostet, zu versuchen, das noch irgendwie zu den eigenen Bedingungen gestalten zu können. Diese Kraft wollte ich aber für anderes nutzen.

Ich liebe es, durch Kinder das Leben zu betrachten: Ich mag den Anarchismus des 5-Jährigen meines Freundes und betrachte mit etwas Sorge und viel Spannung, wie die Pubertät nun auf die 10-Jährige anrollt. Jugendliche werden nach der Anarchie der Kindheit oft zu schrecklichen Konformisten. Wenn ich mit Leuten spreche, die sich fragen, ob sie das eingeschränkte Leben mit Baby aushalten, scherze ich manchmal: Naja, stell dir erst vor, wenn du einen nöligen Pubertierenden auf der Couch sitzen hast … aber klar wird die Beziehung dadurch auch noch mal ganz anders interessant, wenn du es mit einer ausgereifteren Subjektivität zu tun hast (ohne die Subjektivität von Kleinkindern jetzt unterschätzen zu wollen). Bei dem 5-Jährigen habe ich aber anderseits das Gefühl, er schwebt noch im Kosmos und ich würde bedauern, wenn er auf der Erde landet. Wie so ein sprudelndes Geisterwesen schwebt er knapp über der Erde und dann schießt er wieder in die Stratosphäre und ich puste ihn nach oben, damit er bloß kein Erdenmensch wird.

Ich kann viel mit deinem Bild anfangen, dein Kind sei ein guter Bekannter auf einem Trip, auf den man aufpasst. Seit ich mich mehr mit psychedelischen Drogen auseinandersetzte, empfinde ich alle Menschen (und eigentlich tatsächlich alles …) als bewusstseinserweiternde Substanzen, und man muss Sorge tragen, dass wir alle gut damit umgehen und es dosieren können. Ich dosiere ja auch Menschen, bzw. wie sehr ich mich ihnen aussetze. Rückblickend sehe ich, dass es anscheinend immer sehr wichtig für mich war, Menschen dosieren zu können, wie sehr sie einen Impact auf mich haben können und wie sehr ich abhängig von ihnen bin. Das könnte ich bei einem Kind kaum. Nicht nur wegen dem Kind, sondern eben auch dadurch, wie dann die Gesellschaft Zugriff auf mein Leben hat. Das hat sich bei meinen Gesprächen immer wieder bestätigt: Leute bleiben nicht kinderlos, weil sie Kinder nicht mögen, sondern wegen dem Mutter/Eltern/Kleinfamilien-Ideal, das sie dann leben müssen. Aber viele Menschen betrachten Umstände als Ohnmacht, was man auch als Handlungsoption betrachten kann. Die Kinderfrage ist da ganz zentral, weil viele andere schwerwiegende Lebensfragen daran andocken. Gerade deshalb fühlen sich viele demgegenüber auch so hilflos, statt jede Ausgangssituation als Gestaltungspotential zu betrachten.

Schreib mir bitte mehr über deine Ohnmacht und Gestaltungsmöglichkeit und was Du durch deine Kinder über dich lernst.

Alles Gute von Sarah