Lieber Vater

Lieber Vater,
du, der sagt, noch nie ein Buch gelesen zu haben, hast mir die Freiheit mit den Gutenachtgeschichten eingeträufelt. Wachse größer, mache Abitur, sei kein abhängiger Arbeiter wie ich. Jedes Buch, das ich las, jeder Text, den ich aus dem Lateinischen übersetzte, dehnte das Unverständnis zwischen uns. Ich streckte mich hinaus in eine andere Welt, ließ dich in deiner zurück. Die Freiheit für mich hattest du dir in Blazer gekleidet und mit Machtsymbolen ausgestattet vorgestellt, nicht wie ich jetzt lebe. Ich verstumme beim Besuch, du gibst den Ton an, so ist es in deinem Haus, meine Gedanken klingen nicht in der zurückgelassenen Welt, nur in meiner, in die ich nach ein paar Tagen aufbrechen muss, weil wir keine gemeinsame Sprache finden, weil das Unverständnis zu groß ist, ich mich nicht in dein Frauenbild füge. Das zwischen dir und mir geknüpfte Band ist angespannt, droht zu zerreißen, wenn wir beisammen sind, und doch gibt es darin einen Herzfaden, der alles aushält, unzertrennbar. Du sagst, dass du vorne in meinem Buch gelesen hast und in der Mitte, und dass es schon was hermache. Ich fühle Dankbarkeit, dass du meinen Wildwuchs, auch wenn er dir fremd ist, immer unterstützt hast.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung

Unterbrechungen

Die Wohnung schweigt, wenn ich morgens vor den anderen aufstehe, um in den frühen Stunden ohne Unterbrechungen schreiben zu können. Ich mache meinen Tee, füttere den Kater, öffne für ihn das Fenster vor meinem Schreibtisch, damit er in seine Welt schauen kann, Vögel und Eichhörnchen beobachten, die er töten möchte. Ich öffne meine Romandatei und blicke in meine Welt, in der ich mich in der Endphase der Geschichte ständig gedanklich bewege, zu der ich Kontakt halte, auch wenn ich unterbrochen werde. Ich funktioniere im normalen Leben, kann mich beim gemeinsamen Essen unterhalten, zumindest das nötigste, obwohl ich in der anderen, der Romanwelt, feststecke. Dieser Zustand ist für alle anstrengend. Der Versuch, mich wochenweise aus der Familie herauszuziehen, hat nie funktioniert, an mehrmonatige Aufenthaltsstipendien war nicht zu denken, sie fehlen als Glanzpunkte in meinem Lebenslauf. Ich musste mir eine Methode antrainieren, um in beiden Welten parallel bestehen zu können.
Ich schreibe mit Unterbrechungen, die manchmal eine Minute dauern, manchmal Wochen, sogar Monate. Mein Mann und ich teilen uns die Familienaufgaben – und die Sorgen mit einem stillen, in sich gekehrten Kind, das an dem Schulsystem in diesem Land verzweifelt, das im Klassenzimmer neben den lauten Kindern untergeht und leicht Mobbingopfer wird. Es liegt an den Eltern, so etwas zu Hause aufzufangen, Hilfe zu suchen, einen Schulwechsel zu organisieren, wenn gar nichts mehr geht. Die Tür zu meinem Zimmer bleibt immer angelehnt, meine Tochter soll das Gefühl haben, mit mir sprechen zu können, wenn sie es braucht, wenn die Welt draußen zu feindlich wirkt. Wir müssen einen Hafen für sie bauen.
Zweimal wurde die Veröffentlichung meines Romans verschoben, jedes Mal habe ich mich geärgert, aber auch gedacht, dass ich sowieso nicht zu einer Lesetour hätte aufbrechen können. Jetzt besucht meine Tochter eine Schule, die mir wie ein Auffangbecken für alle scheint, die nicht ins System passen. Ihr geht es gut, aber jetzt, wo mein Roman in die Welt tritt, ist Pandemie, die Lesetour fällt aus. Die Wege laufen nicht gerade, weder in meiner Schreibwelt noch in meiner Familienwelt.
Ich höre Bewegung in der Wohnung, der Wasserkocher sprudelt. Der Kater springt vom Fensterbrett und läuft aus dem Zimmer, die anderen begrüßen. Ein weiterer Schreibtag mit Unterbrechungen beginnt.