Lieber Vater,
du, der sagt, noch nie ein Buch gelesen zu haben, hast mir die Freiheit mit den Gutenachtgeschichten eingeträufelt. Wachse größer, mache Abitur, sei kein abhängiger Arbeiter wie ich. Jedes Buch, das ich las, jeder Text, den ich aus dem Lateinischen übersetzte, dehnte das Unverständnis zwischen uns. Ich streckte mich hinaus in eine andere Welt, ließ dich in deiner zurück. Die Freiheit für mich hattest du dir in Blazer gekleidet und mit Machtsymbolen ausgestattet vorgestellt, nicht wie ich jetzt lebe. Ich verstumme beim Besuch, du gibst den Ton an, so ist es in deinem Haus, meine Gedanken klingen nicht in der zurückgelassenen Welt, nur in meiner, in die ich nach ein paar Tagen aufbrechen muss, weil wir keine gemeinsame Sprache finden, weil das Unverständnis zu groß ist, ich mich nicht in dein Frauenbild füge. Das zwischen dir und mir geknüpfte Band ist angespannt, droht zu zerreißen, wenn wir beisammen sind, und doch gibt es darin einen Herzfaden, der alles aushält, unzertrennbar. Du sagst, dass du vorne in meinem Buch gelesen hast und in der Mitte, und dass es schon was hermache. Ich fühle Dankbarkeit, dass du meinen Wildwuchs, auch wenn er dir fremd ist, immer unterstützt hast.
Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung