Nullerjahre

„Keiner hat dich gezwungen, ein Kind zu bekommen.“
(Quelle unbekannt)

Als ich noch eine alleinerziehende Mutter war, habe ich nie darüber geschrieben, wie ich Elternschaft und Schreiben unter einen Hut bekomme. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen. Doch – einmal! Ich sollte einen Artikel für eine pädagogische Zeitschrift schreiben. Weil ich alleinerziehend war, sollte ich Erziehungstipps für Alleinerziehende geben. Ich brauchte das Geld, also begann ich zu schreiben und stellte fest, dass ich keine Tipps für Alleinerziehende hatte. Ich stellte fest, dass ich eher wenig über die Situation Alleinerziehender wusste. Ich wusste eher wenig über meine eigene Situation. Für den Artikel forderte ich vom Statistischen Bundesamt Statistiken an über die Situation von Alleinerziehenden; es gab keine. Nur dass es vor allem Frauen sind, die alleinerziehend sind, ließ sich herausfinden, und dass ein hoher Prozentsatz Alleinerziehender von Armut betroffen ist. Die finanzielle Situation Alleinerziehender führe dazu, so recherchierte ich weiter, dass sie schlecht bezahlte Arbeit annehmen müssen, dadurch oft noch mehr arbeiten, dadurch noch weniger Zeit für das Kind haben. Oder sie beziehen Hartz IV und lassen sich permanent demoralisieren. All dies führe am Ende auch zu permanenter Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse. Das kannte ich. Ich nannte es chronischen Sexmangel. Ich beendete den Artikel mit der Empfehlung, die gesellschaftliche und finanzielle Situation von Alleinerziehenden drastisch zu verbessern. Der Beitrag wurde von der Redaktion abgelehnt, er böte zu wenig pädagogischen Input.
Ich habe nie über diese Zeit als Alleinerziehende und Schriftstellerin geschrieben. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, ich habe mich noch nicht einmal als Schriftstellerin empfunden. Das lag daran, dass ich auch als Schriftstellerin nicht richtig funktionierte. Immer wieder wurde mir gesagt, ich würde zu wenig emotional schreiben. Meine Figuren würden zu wenig leiden, und wenn, dann litten sie unter dem Falschen. Ich sei nicht nah genug dran an ihren Gefühlen. Doch meine Heldinnen empfanden einfach weniger als andere, im Grunde arbeiteten sie daran, gar nichts zu empfinden. Sie wollten nichts über sich selbst wissen. Sie hatten keine Ziele außer den nächsten Tag zu überstehen. Sie sehnten sich nach Sex, hatten flüchtige Beziehungen und tranken gerne Bier. Sie verliebten sich nicht in schwierige Männer, sie waren selbst schwierig. Sie waren Betrügerinnen oder hatten Jobs, die es gar nicht gab. Menschen, die meine Geschichten lasen, konnten sich mit meinen Figuren nicht identifizieren. Niemand wollte blöde Jobs oder flüchtige Beziehungen.
Ich schrieb trotzdem weiter und manchmal gewann ich einen Preis, weil irgendjemand verstanden hatte, um was es eigentlich ging. Mein Kind wurde größer, meine Jobs wurden besser, und ich hatte auch wieder öfter Sex. Als das Kind erwachsen war, drehte sich das Blatt. Mir wurde ein Residenzstipendium angeboten und ich musste es nicht ablehnen. Endlich konnte ich wieder reisen. Ich bewarb mich auf weitere Aufenthaltsstipendien, bekam Geld, Essen oder eine Wohnung dafür, dass ich Schriftstellerin war und Figuren erfand, mit denen sich niemand identifizieren konnte. Ich schrieb über das Fremdsein im eigenen Zuhause, im eigenen Körper, über sprachlos sein und sprechen lernen. Meine Romane wurden veröffentlicht und in Rezensionen besprochen. Mein Kind freute sich, dass aus seiner Mutter doch noch etwas zu werden schien. Elternschaft und Schreiben standen sich nicht mehr gegenseitig im Weg. Ich versuchte, die Nullerjahre zu vergessen, meine persönlichen Nullerjahre. Und nach und nach vergaß ich, wie ich mich gefühlt hatte in einer Welt, die nur mit denen solidarisch ist, mit denen sie sich identifizieren kann.
Dann kam Corona. Ich las auf Twitter von der Verzweiflung der Eltern, der Verzweiflung der Mütter, der Verzweiflung der Alleinerziehenden. Ich konnte das erste Mal so etwas wie Mitgefühl mit meinem vergangenen Ich empfinden. Jemand schrieb während des Lockdowns, man würde mutterseelenallein gelassen, ein Ausdruck, den auch ich benutzt hatte in dem Beitrag, der nie veröffentlicht wurde. Ich hatte mein Déjà-vu. Es hat sich in den letzten zwanzig Jahren offenbar nichts geändert –  und doch sehr viel. Mutter-Bashing ist nicht mehr hip. Armut von Alleinerziehenden ist jetzt ein Thema. Es gibt den Begriff Care-Arbeit. Schriftstellerinnen und Schriftsteller sprechen über ihr Elternsein, über Sexismus, über familienfeindliche Bedingungen im Literaturbetrieb. Es gibt diesen Blog. Und immerhin darf Verzweiflung jetzt empfunden werden.