ad-Dahr

Liebe Lisa,

ohne recht zu wissen wie, werde ich versuchen, dir die merkwürdigen Verkettungen von Gedanken, Ereignissen und Zuständen, die heute meinen Tag geprägt haben, noch schnell, bevor ich mich vom Computer losreiße, aufs leuchtend weiße Blatt zu tippen. Ich lag in mittäglicher Umnachtung neben meinem Sohn auf dem Sofa, der in seinem Familienalbum blätterte und kratzend und reißend immer wieder versuchte, hinter die Bilder zu kommen – ein Drang, den ich gut verstand, trotzdem zu unterbinden versuchte –, als aus diesen hundertmal gesehenen Bildern, die mir sonst nicht mehr als die Namen der jeweils Abgebildeten sagen, die vergangenen Zeiten mir mächtig nostalgisch ins Herz stachen. Die verlassene Stadt, die verlassene Wohnung, die etwas jüngeren Gesichter, das Baby, das die Zeit restlos verschlungen hat, usw. Mit der nächsten Welle erwischte mich das heftige Gefühl, dass so bald schon alles wieder vorbei sein würde. Der kleine Sohn in einem größeren verschwunden. Mein Gesicht noch immer da, aber trotzdem anders. Der jetzige Moment im nächsten unerreichbar verloren. Ich dachte daran, dir für den Blog einen Brief mit dem Titel „ad-Dahr“ zu schreiben, jene „zerstörerische Zeit“, die die alten Araber in ihren Qasiden besungen und beklagten. Ich wollte mir auch ein paar Notizen machen, aber der Sohn, der Sohn, er wollte, dass ich seine Hand umzeichne, damit er sie auf dem weißen Papier sehen kann.
Also gut, ein Ausflug mit dem Fahrrad durch die Dämmerung, beschloss ich für uns beide. Als ich noch die Fahrradlichter um die Sattel- und Lenkerstange spannte, meinen Sohn auf seinem Sitz fest schnallte, lief ein über sein Telefon gebeugter Mann an uns vorbei, ich hörte nur, wie er leise „keinen Lebensmut mehr, der spinnt wohl“ fluchte.
Wir fuhren los, am Himmel lagen Tag und Nacht noch ineinander verschlungen, ich schlug ziellos eine Richtung ein. Nach einem kurzen Halt beim Schloss vor den eisernen Löwen, die eine angenehme Zeitlosigkeit verströmten, ging es durch den Park. An einer Weggabelung ließ ich meinen Sohn zwischen einer erleuchteten und einer kaum erleuchteten Straße, die beide auf gleich kurzem Weg nach Hause führten, entscheiden. Er wählte den dunklen Weg und zeigte mir mit ausgestrecktem Arm die verwinkelten Silhouetten der Bäume vor dem abendblauen Himmelszelt. Ich dachte daran, wie vor Jahrzehnten meine Mutter mir und meinen Brüdern, von unserem Vater am Klavier begleitet, „den Erlkönig“ vorsang, und uns nach wenigen Zeilen angstvolles Heulen packte. Ein paar unsichtbare Vögel flatterten auf. Mein Sohn erinnerte sich an sein erstes Feuerwerk, dass wir vor zwei Sommern in den Herrenhäuser Gärten angeschaut hatten – nach den ersten Explosionen war er in Tränen ausgebrochen.
In weiten Bögen fuhr ich durch die ungewohnt leeren Straßen. An einer Kreuzung standen vier Jungs, der Eine sagte zum anderen: „Mit oder ohne Haribo, sterben tust du sowieso“.
Viel plumper kam die Antwort: „Du stirbst auch.“
Und als ich schon fast außer Reichweite war, erreichte mich doch noch das unumstößliche Gottesurteil: „Jeder stirbt.“
Jetzt wunderte ich mich zum ersten Mal über die merkwürdigen Verkettungen, wurde aber sofort aus meinen Gedanken gerissen, als ein Mann laut und deutlich in sein Telefon befahl, die Todesakten seiner Mutter und seines Vaters anzufordern. Am Spielplatz wollte mein Sohn gleich weiterfahren. Als wir schließlich in unsere Straße einbogen, stieg ich ab und schob das Fahrrad die letzten Meter. Wiederum horchte ich auf. Gegenüber aus einem leeren, erleuchteten Hauseingang rief eine kratzige Stimme aus der Gegensprechanlage: „Hallo, wer ist da?“
Ich lief weiter, erwartete, dass die Stimme ihren Irrtum schnell begreifen würde, aber nach fünf Metern hörte ich sie erneut flüstern: „Hallo, ist da wer?“ Es muss an den Verkettungen gelegen haben, an der Dunkelheit des Tages, dass ich tatsächlich kehrtmachte, um auf das vergebliche Fragen zu antworten: Nein, niemand ist da. Als ich die Straße überquert hatte, am Hauseingang stand, war der Lautsprecher erloschen, ich wartete noch einige Sekunden, aber die Stimme blieb stumm.
Wieder daheim, schaltete ich die Wohnzimmerbeleuchtung an, zog den Vorhang zu; mein Sohn stellte sich an seine Werkbank und versank ins Spiel. Ich rief meinen Vater an. Während der Viertelstunde, die wir ohne roten Faden dahin plauderten, vergaß ich alles, was sich ereignet hatte, kam, wie man sagt, auf andere Gedanken. Erst jetzt, als letzte Tat vor dem Zubettgehen, habe ich mir die Geschehnisse wieder in Erinnerung gerufen, für dich und all die anderen, vor allem aber für mich, um nun mit Hilfe des Schlafes in die Geheimnisse dieses Tages einzutauchen.

Gute Nacht und gutes Erwachen.
Lorenz