Lieber William,
vor kurzem habe ich dein Buch Tja, Papa gelesen. Im Vorwort schreibst du an deinen Sohn: Ich beschloss dieses Buch zu schreiben, weil du mich 1953 als Zehnjähriger darum gebeten hast und weil meine Fähigkeiten 1918, als ich selbst zehn Jahre alt war, für das, was ich sagen wollte, nicht ausreichten.
Wie schön du diese beiden Zehnjährigen zusammen bringst. Du beschreibst aus der Sicht des Sohnes die Beziehung zwischen Vater und Kind, die geprägt ist von Fürsorge, Verständnis und Zärtlichkeit. Es steckt so viel Weisheit in den kurzen Kapiteln, die nie belehrend wirkt, und es steckt Trost darin, wie du den Schmerz, der für uns alle unausweichlich ist, begreifst und beschreibst.
Vielleicht sollten alle Schriftstellerinnen mit Kindern versuchen, so ein Buch für ihr Kind zu schreiben. Vielleicht auch nicht, vielleicht hast du ein besonderes Talent, eine Kinderwelt zu schreiben, das ist mir schon in deinem Roman Die menschliche Komödie aufgefallen.
Vielleicht liegt es daran, dass die Erinnerungen an deine eigene Kindheit schmerzhaft sind und sich diese Erfahrungen so tief in dir eingebrannt haben. Ein Kind, das mit drei Jahren seinen Vater verliert und dem die Mutter dann, bevor sie ihn mit seinen drei Geschwistern ins Waisenhaus gibt, sagt: Ich muss jetzt gehen, und du darfst nicht weinen. Du bist ein großer Junge. Erst einige Jahre später, als deine Mutter euch vier versorgen kann, wohnt ihr wieder zusammen.
Wie viel mehr als dein Vater konntest du deinem eigenen Sohn geben, einfach indem du da warst, und wie viel mehr konntest du ihm geben, weil du versucht hast, auf Augenhöhe mit ihm zu sein.
Ich habe dein Buch gelesen und mich unzulänglich gefühlt. Aber nicht auf eine hoffnungslose Weise. Wir versagen alle, aber das Buch rührt eine Saite in mir, die offenbar da ist. Ich danke dir dafür, dass du mich an sie erinnerst.
Herzlich
Selim
Lieber William,
ich erinnere mich noch, als ich das erste Mal deine Bücher entdeckte. Ich war Anfang 20 und regelmäßig in der Bücherei, auf der Suche nach Autoren, die mich berühren konnten. Die meisten fand ich langweilig und fad. Bei dir aber war eine Wärme und emotionale Nähe, eine Menschenliebe, die mich angezogen hat. Damals erschien mir das alles überlebensgroß.
Das hat etwas mit Büchern zu tun, mit Literatur, mit Kunst. Sie überhöht immer alles. Eine Liebesgeschichte ohne Schuppen und schlechten Atem, ohne Schwiegermutter und Verspätungen, ohne Ausreden und Notlügen, ohne Vorwürfe und ohne gescheiterte Dialoge, ohne Zuschreibungen und eigene Dämonen, das gibt es wohl nur auf dem Papier, auf der Leinwand, auf der Bühne, in den Liedtexten.
Wenn ich heute deine Bücher wiederlese, erscheint mir nicht mehr alles überlebensgroß. Aber ich bin beeindruckt, dein Sohn ist Schriftsteller geworden, deine Tochter Schauspielerin. Vielleicht hast du ihnen vermitteln können, wie wichtig es ist, sich selbst kennenzulernen, den Ruf aus dem Inneren zu vernehmen und ihm zu folgen. Zu gehen nach dem Rhythmus der Musik, die in einem erklingt. Was mehr kann man seinen Kindern beibringen?
Herzlich
Selim
PS. Gibt es eigentlich auch ein Buch, das du deiner Tochter gewidmet hast, so wie du Tja, Papa deinem Sohn gewidmet hast?
Lieber William,
du warst zweimal verheiratet. Beide Male mit der derselben Frau. Einmal von 1943 bis 1949 und einmal von 1951 bis 1952.
Es heißt, dass es am Alkohol lag und am Spielen. Ein Zusammenleben mit dir war nicht mehr möglich. William, du hast Geld verspielt und du hast getrunken. Andere Autoren haben in ihrer Literatur ein Image darauf aufgebaut, aber du siehst auf dem Papier wie ein liebender, zärtlicher Vater aus. Man kann vielleicht alles sein, ein Trinker, ein Spieler, ein warmherziger Mensch, der nicht nur an seinen Nächsten großen Anteil nimmt, das Leben ist voller Widersprüche und herrlich verrückt. Doch ich gehe davon aus, du warst nicht da für deine Kinder, wenn du betrunken warst. Du warst ja dann nicht mal für dich selbst wirklich da. Du warst nicht da, wenn du gespielt hast. Es hat eine Kraft gegeben, die stärker war, als die Liebe zu den Kindern, nicht wahr? Stärker als die Liebe zu deiner Frau.
Das Spielen hat dir beim Schreiben geholfen, hast du gesagt, einige deiner besten Geschichten und Stücke seien entstanden nach großen Verlusten. Das klingt wie eine Entschuldigung für mich, doch selbst wenn es keine ist, dann war das Schreiben wichtiger als deine Kinder. War möglicherweise sogar das Schreiben über deine Kinder wichtiger als deine Kinder?
Selbst wenn es so wäre, ändert es nichts an dieser Saite, die du in mir zum Klingen bringst. Aber ich weiß, wenn ich die Wahl hätte, in der Erinnerung meiner Kinder überlebensgroß zu sein oder in der Erinnerung meiner Leserinnen, wenn ich die Wahl hätte, in wem ich die zärtliche Seite zum Klingen bringen möchte – ich würde nicht zögern.
Ruhe in deiner Kraft, dein treuer Leser
Selim