Take Care: Martina Hefter & Sibylla Vričić Hausmann (III)

Liebe Martina,

in deinem Brief sprichst du ein Thema kritisch an, das für Other Writers zentral ist: Das „Nachdenken über Aspekte der Kunstausübung“ – wie du es so genial nennst. Eigentlich ist das ja der Kern des Blogs: Unter welchen Umständen schreibe ich? Warum geht das so schwer zusammen, das Schreiben und Kinder großziehen? Pragmatismus ist bei diesen Fragen ganz sicher der richtige Ansatz, wenn es um konkrete Fälle, um die Ausrichtung des eigenen Arbeitsalltags geht. Ja, das ist es, das muss ich ganz ehrlich sagen, was mich auch ein bisschen Distanz halten lässt zu Projekten, die strukturelle Schwierigkeiten dokumentieren, wie eben unser Blog. Weil das – ehrliche und voll gerechtfertigte – Lamento eben auch entmutigen kann. Und irgendwie muss ich ja mit meinem Leben und mit meinem Schreiben zurande kommen. Reflexion hat auch Grenzen, es muss sich was ändern. Und wenn es erstmal nur Lösungen im Kleinen sind, sie müssen her, jetzt. (Und dann, an gewissen Punkten, immer für eine Weile, gibt es noch den „Zustand der Akzeptanz“ – der auch Energien freisetzen kann. Aufhören zu kämpfen. Eigenes Ding machen. Sich nicht verzetteln.) Ein uraltes Problem. Reden über Probleme ist unverzichtbar, aber es gibt auch Grenzen des Redens. Es gibt auch Gespräche, die verpuffen, weil sie dann doch nichts zu verändern vermögen. Oder die schlimmstenfalls sogar so viel Energie rauben, dass es danach erst recht an Tatkraft fehlt.

Dass Nachdenken und (Selbst-)Reflexion in der Literatur noch mehr im Vordergrund steht als in anderen künstlerischen Sparten, glaube ich auch. Sind Autor*innen „nerdiger“ als Tänzer*innen und Schauspieler*innen? So durchschnittlich, meine ich? Ich nehme es an. Und doch gibt es ja auch im Bühnenbereich (und im Bereich Bildender Kunst, der vielleicht im Nerdigkeitsgrad irgendwo dazwischen steht, siehe „Mehr Mütter für die Kunst“) aktuelle Initiativen, die aus der Reflexion über die nicht optimalen Bedingungen für Frauen* und Mütter* hervorgegangen sind, etwa Pro Quote Bühne.

Literatur ist eine einzige große Erinnerungs-, Reflexions- und Imaginationsschleife. Sie ist stark auf ein „Innen“ gerichtet, psychisch, räumlich. Sie muss sich in meiner Wahrnehmung immer wieder neu überreden, rauszugehen, politisch zu wirken, wirklich „da“, wirklich präsent zu sein. Denn ein „Eigenes Zimmer“ oder eine Schreibkammer, aus der nichts nach außen dringt, was dieses Außen verändern könnte, nutzt keiner und keinem. Könnte zum Gefängnis werden oder zum Kloster. Oder zu einer Festung, wie Christine de Pizans „Stadt der Frauen“ (1403). Gleichzeitig darf man aber auch nicht vergessen, wie unglaublich wichtig Reflexion ist – dass deren Unterdrückung die allerschlimmsten Folgen hat für Weltanschauungen im Kleinen und politische Systeme im Großen … Außerdem ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion zwar für die Literatur „normal“ und manchmal schon nervig – aber allgemein betrachtet doch eine kostbare, weil rare, nicht sehr weit verbreitete Eigenschaft.

Ungefähr so viel wie über Care-Arbeit denke ich ja über Gewalt nach und darüber, wie sie entsteht. Also viel. Der Psychologe und Autor Arno Gruen (1923-2015) kam zu dem Schluss, dass menschliche Grausamkeit durch ein vertieftes Gespräch zwischen den Geschlechtern zu verhindern sei. Damit meinte er nicht nur Einzeltäter*innen, sondern auch die Verbrechen z.B. des 2. Weltkriegs und des Jugoslawienkrieges. Klingt krass, aber er meinte eben, sehr abstrakt, man müsse „sich verzweigen. Der Frau Freiräume vom Muttersein schaffen. Dem Mann Freiräume fürs Vatersein.“ Das las ich bei Jagoda Marinic, „Sheroes“ (2019). Ich würde das über leibliche Elternschaft hinausdenken wollen. Care-Arbeit als etwas begreifen, was eigene Problemkreise sprengen und Empathie fördern kann. Care-Arbeit so zu teilen, dass ihre guten, belebenden Seiten stets spürbar sind, scheint mir in diesem Sinne das wichtigste Anliegen des Feminismus zu sein … Apropos Sheroes: Mein Verständnis von Care als umfassendes Konzept, das Menschen in ihren Beziehungen zueinander versteht, ist verwandt mit der „Carrier Bag Theory of Fiction“ (1986) von Ursula K. Le Guin. Das habe ich selbst erst vor kurzem, bei der Vorbereitung auf die Care/Rage-Konferenz erfahren. Seitdem bin ich Fan. Die Autorin verabschiedet sich in dem Essay vom Held*innentum, vom Beitrag so genannter herausragender Figuren zur Geschichte (story, history). Es kommt für Le Guin stattdessen darauf an, wie die Einzelnen (Figuren, Requisiten …) einander zugeordnet sind. In ihren Romanen entwirft sie Zukunften, wie sie – besser – sein könnten.

Care ist mehr als die Pflege kleiner Kinder. Auch wenn ihre Notwendigkeit dort vielleicht am sichtbarsten ist. Oder aus anderen Gründen die meiste Aufmerksamkeit erfährt. Care heißt „sorgenvolle“ Beziehung, nicht nur zu kleinen Kindern, auch zu erwachsenen Kindern und natürlich zu Eltern und anderen nahestehenden Personen. Diese Verbundenheiten sind gewissermaßen immer auch Befangenheiten, Einschränkungen der Schreibfreiheit. Die Angst, einen geliebten Menschen zu brüskieren, zu beunruhigen oder gar bloßzustellen durch einen Text – die kennen wahrscheinlich so gut wie alle Autor*innen. Hier sind für jeden Text Entscheidungen und auch Rücksichtnahmen nötig. Bestenfalls entsteht dadurch eine Sublimationsmaschine à la Formzwang, ein Korsett, das sowohl einschränkt als auch neue Möglichkeiten sichtbar macht. Das jedenfalls wünschte ich mir … Die Vorstellung vom „radikalen Autor“, der auf alle Rücksichtsnahmen pfeift, um literarisch sein Ding zu machen –ist doch auch wieder nur Teil einer Heldengeschichte, ein Fremdbild, dem vielleicht manche*r zu entsprechen versucht.

Zum Schluss möchte ich noch sagen: Dass du zwei örtlich attraktive, sicher hoch dotierte Stipendien für deine Familie abgelehnt hast, finde ich stark und selbstbestimmt. Ich denke, dass es für diese Entscheidung heute mehr Verständnis geben würde und mehr Druck auf die Institution, sich selbst zu hinterfragen: „Hmm, wenn die Autorin dieses Angebot zweimal abgelehnt hat, dann stimmt vielleicht etwas mit dem Angebot nicht (und mit der Autorin ist alles in Ordnung)?“

Liebe Grüße.

Sibylla

 

Liebe Sibylla,

viel Zeit ist vergangen seit unserem letzten Austausch, und als ich unseren Briefwechsel noch mal durchlas, dachte ich, dass man noch gut und gern zwanzig Seiten weiterschreiben könnte. Oder auch fünfzig. Ich konnte meine Gedanken dazu aber kaum bündeln, wusste nicht, was ist noch wichtig, was nicht? Seit drei Tagen führt Putin einen Angriffskrieg in der Ukraine, und das ist jetzt gerade das, was meine Wahrnehmung bestimmt. Aber dann geht hier in Leipzig trotzdem der profane Alltag weiter, das finde ich unwirklich. Ich hatte heute einen kurzen Moment, wo ich das, was vielleicht unter die Schwierigkeit von Care-Arbeit fällt, ganz deutlich spürte – es war eine kurze Sekunde nur: Ich gehe gegen 16.30 Uhr aus dem Haus, um für eine meiner Töchter einzukaufen. Sie sitzt im Auto nach Leipzig, zusammen mit einer Freundin, beide waren bei meiner Mutter im Gebirge und hatten gestern plötzlich positive Coronatests. Zusammen fahren sie zurück nach Leipzig in die Isolation. Ich werde die nächsten sieben Tage öfter für meine Tochter einkaufen, zum Glück sind es nur 10 Minuten zu Fuß zu ihr.

Ich bin erschöpft, habe heute einen Antrag für die KdFS fertiggemacht, noch nicht richtig gegessen, noch nicht aufgeräumt. Noch nicht geschrieben, noch nicht getanzt. Mein an Multipler Sklerose erkrankter Mann räumt an guten Tagen die Spülmaschine aus, heute ist er körperlich erschöpft, kommt nicht aus dem Rollstuhl, geht schon nachmittags zurück ins Bett. Meine Tochter schickt mir eine Einkaufsliste per WhatsApp, ich gehe in den riesigen Edeka bei ihr auf der Straße, irre durch die Gänge, plane, überlege, was sie noch brauchen wird die nächsten Tage. Ich fälle sinnvolle, überlegte Entscheidungen, das erfordert viel Konzentration. Außerdem bittet mich meine Tochter, bei Rossmann ein Erkältungsbad zu holen. Ich stehe dort vor dem Regal mit den Bademitteln, sehe auf einmal verlockende Muskelentspannungsbäder. Und bekomme in diesem einen Moment ein super komisches Gefühl: Ich werde wütend – auf das Schicksal. Wie lange hat mir eigentlich schon niemand mehr ein Bad eingelassen? Wie lange habe ich nicht mehr in einem Muskelentspannungsbad gelegen? Einfach, weil mir so ein Bademittel gar nicht erst ins Bewusstsein kam? Kurz überlege ich, mir so eine Flasche zu kaufen, aber der Gedanke geht zu schnell vorbei, ich denke, dass ich mich auch einfach so in heißes Wasser legen kann, und irgendwie bin ich auch wieder zu geizig und kaufe lieber noch zwei Tees für meine Tochter. Und der Anfall ist auch sofort wieder vorbei. Auf dem Heimweg ist diese Sekunde aber dann nochmal sehr präsent. Aber dann denke ich, dass es eigentlich gerade ganz schön ist – trotz Krieg, Erschöpfung, Corona. Wegen der angebrochenen blauen Stunde, der ganz leicht wahrnehmbaren Frühlingsluft, der schönen Lichter, die man von der Brücke aus sieht, die über den Fluss führt.

Martina.