Take Care: Andrea Karimé & Barbara Peveling (II)

Liebe Andrea,

deine Erzählung über die Angst, nicht nach Hause zu kommen, hat mich sehr berührt. Und nachdenklich gemacht. Beim Lesen habe ich in mich gehorcht, ob sie auch in mir wohnt, diese Angst. Dabei habe ich entdeckt, dass meine größte Sorge, die ist, dass ein geliebter Mensch nicht zurückkommen könnte. Eine Umkehrung deiner Angst also?
Der Moment, als meine Mutter ins Zimmer trat und sagte, Papa ist tot, ist für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Mein Vater hatte versprochen, sein Jagdgewehr zu verkaufen. Stattdessen hatte er es im Haus versteckt. Er litt schon lange an Depressionen.
Ich war sieben Jahre alt.
Die Angst und ihre Gewalt haben mich seither immer begleitet. Denn der Kreislauf der häuslichen Gewalt beginnt eigentlich meistens mit der Angst des Mannes.
Dann war da dieser Abend, als mein Stiefvater meine ältere Schwester und auch mich geschlagen hat. Unsere Mutter war unterwegs, meine Schwester rettete sich in ihr Zimmer und verschloss die Tür. Ich bin im Schlafanzug auf die Straße und hatte solche Angst, dass meine Mutter nicht mehr zurückkommen würde.
Später dann hat auch die Zufahrt zum Flughafen von Beirut bei dieser Angst vor der Abwesenheit ohne Rückkehr eine Rolle gespielt, wie bei dir. Das war im Frühjahr 2008, ich war schwanger und mein Mann hat seine Familie besucht. Es kam zu einem Konflikt zwischen Regierungsgruppen, zu Blockaden und Straßenkämpfen. Mir ist noch ein Telefonat mit ihm in Erinnerung geblieben, plötzliches Geschrei in der Leitung, im Hintergrund sogar Schüsse und er meinte, sie würden sich jetzt in der Wohnung verbarrikadieren. Diese Angst vor dem Verschwinden, wenn er dort war, kannte ich schon aus dem Libanonkrieg im Sommer 2006, als er mit seiner Familie nach Syrien flüchten musste.

Um zu deinem letzten Satz, oder besser dieser Frage zurückzukommen, wächst in mir eine andere, weitere Frage: Muss nicht, um eine Sprache zu sprechen, überhaupt die Fähigkeit miteinander zu sprechen, erst mal existieren? Von der Sprache ihres Vaters sprechen meine Söhne vor allem Schimpfwörter wie schamuta oder ychsachtak. (Dabei handelt es sich um sexistische und frauenfeindliche Schimpfwörter.)

In seinem „Tagebuch eines Zusammenbruchs, Beirut 2020“ (Beyrouth 2020, Journal d´un effrondement) hat Charif Majdalani einen Auszug aus der Selbsttherapie veröffentlich, die seine Frau Nayla, Psychotherapeutin, in jener Zeit mit sich selbst abgehalten hat. Die Analyse ihrer Angst in den Tagen nach der Explosion im Hafen von Beirut hat mich beeindruckt, in ihren Worten wuchs die Angst aus ihrer Kindheit, ausgelöst durch den Liebesentzug als Strafe von Seiten ihrer Mutter.

Majdalani ist glaube ich nicht auf Deutsch übersetzt. Neulich habe ich in der kleinen Buchhandlung unseres Pariser Vorortes eine ganze Wand von Pierre Jarwans Übersetzungen entdeckt. Ich habe mich sehr gefreut, denn deutsche Literatur hat es nicht immer leicht in Frankreich. Seine Beliebtheit hat sicherlich auch damit zu tun, dass das libanesische Narrativ in Frankreich so anders ist als in Deutschland.

Fühle dich umarmt,
herzlich
Barbara

 

Liebe Barbara,
es hat ein wenig gedauert, bis ich mich an eine Antwort setzen konnte. Ich habe immer wieder an deinen Brief gedacht, an die tiefliegenden Ängste und schlimmen Erfahrungen, die du beschreibst, und die traurige Links zu meinen Erfahrungen finden. Üsüntülü, sagte mir das schöne türkische Wort dafür, betrübt.
Der Krieg in der Ukraine hat mich tagelang mundtot gemacht. Gerade noch schrieb ich dir, dass ich mich darauf konzentrieren wolle, dass kein Krieg ist, und dann ist da einer.
Ein Loch in der Sprache.
Natürlich ist es nicht der erste Krieg, der mich tief erschüttert. Auch der Krieg in Afghanistan, Irak, Syrien und viele andere gingen nicht spurlos an mir vorbei. Und wahrscheinlich ist dieser Krieg auch nur scheinbar näher als die anderen.
Dennoch war ich einige Tage wie gelähmt. Hinzu kommt, dass ich mich um den Rassismus an den Grenzen sorge und um den in der Berichterstattung, die Worte wie „uncivilized“ in den Mund nahm und nimmt, etwa im Zusammenhang mit schwarzen und/oder muslimischen Flüchtlingen.
Dieses Lähmungsgefühl ist natürlich noch nicht weg, aber ich kann mich immerhin wieder aufraffen, das Nötigste zu tun, immer im Bewusstsein, dass es ein Privileg ist, abschalten zu können, vom Krieg, nur für heute.
Und zum Nötigsten gehört auch das Schreiben, Worte zu finden, und sich zu verbinden, wie mit diesem Brief. Gerade letzteres ist in Zeiten des sich verstärkenden austobenden Hasses, (nichts anderes ist Krieg) von größter Bedeutung. Schreiben, um zu verstehen, schreiben, um Verbindungen herzustellen.
In der Lücke Wörter finden.
Aber gerade das ist auch schwer. Ich weiß nicht, ob das Folgende zusammenhangsvoll für unseren Dialog ist, vielleicht ist es nur Sprache, aufgehäuft, wie lose Blätter im Herbst.
Sprache zu finden als etwas Not/Wendiges führt zu deiner Frage des Miteinandersprechens. Meine Schwester und ich teilen auch dieselbe Muttersprache, und doch können wir nicht miteinander sprechen, weil die Erfahrungen, wie bei euch, zu fundamental unterschiedlicher Wahrnehmung der Welt, des Geschehenen und uns selbst geführt hat. Da ist das Verstehen verschwunden, nicht möglich. Nur in der kleinen Ecke des Anerkennens der Perspektiven wäre da Platz. Ohne die Erwartung des Abgleichs, ohne Möglichkeit des Übereinanderlegens von Wahrnehmungsfolien in der Hoffnung, sie würden aufeinanderpassen.
Es ist die Frage nach dem Frieden, auch im Kleinen.
Und so ist auch die Frage nach der Sprache als Akt der Kommunikation immer eine Frage der Perspektive. Und vielleicht ist es gerade deshalb so heilsam für mich, Arundhati Roy zu lesen. Für die eine Sprache, die immer von anderen Sprachen – es sind über einhundert in Indien – durchbrochen wird oder innerhalb eines Lebens auftaucht und wieder verschwindet, missbraucht von der strukturellen Gewalt der Sprachbegrenzung und des fanatischen Hasses. Sie schreibt in ihrem Essay „In welcher Sprache fällt der Regen auf kummergewohnte Städte“ (übrigens ein Zitat von Pablo Neruda) „Für mich, oder für die meisten zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in dieser Gegend arbeiten, kann Sprache niemals eine Selbstverständlichkeit sein. Sie muss gemacht werden, sie muss zubereitet werden.“
Majdalani habe ich mir auf Englisch bestellt. Das Französische ist aus meinem Leben verschwunden, wie das Arabische, das ich als Kind für den „Hausgebrauch“ sprechen konnte. Ich habe von allem immer noch den Handtaschenvorrat, aber von Fließendem ist er weit entfernt. Und ist es nicht seltsam, dass eins der ersten Wörter, die ich gelernt und nie vergessen habe, auch schamuta heißt? schamuta wohnte in unserem Flur. Da war das Telefon, da stritten sich meine Eltern meistens. Ich wusste nicht, was es heißt, es schoss aus dem Mund meines Vaters ins Telefon, ich wusste, es reiste in den Libanon, aber das Wort war auch Angriff gegen meine Mutter. Sie weigerte sich, es mir zu übersetzen. Was Schmutziges, sagte sie. Aber warum wohnte es dann in unserem Flur? Im Mund? Im Telefon?
Es freut mich aber sehr zu hören, dass das libanesische Narrativ in Frankreich anders ist als hier. Neulich im Café meiner Straße beschwerte sich der Besitzer wieder über Libanesen, „alles Bandenkriminelle!“ Er weiß, dass mein Vater aus dem Libanon stammt, wie die Hälfte meiner Familie. Aber warum weiß er nicht, dass er im Prinzip auch mich als bandenkriminell bezeichnet hat? Ich fühlte mich wie das Kind damals, als meine weiße deutsche Großmutter, angesichts eines Bilds im „Das goldene Blatt“ von einer Hochzeit einer Weißen mit einem Schwarzen folgende Worte ausgestoßen hat: „Müssen die sich eigentlich alle vermischen?“

Andrea