Take Care: Bettina Wilpert & Ricarda Kiel (III)

Hallo Ricarda,

danke für deinen Brief.

Vielleicht schaffe ich es erst durch dich, meiner Fehlgeburt sozusagen etwas „Positives“ abzugewinnen, einen anderen Blick auf sie zu werfen, dadurch etwas über mich zu lernen. Du schreibst von der Freiheitsgewinnung und für mich zeigte mir die Fehlgeburt, dass mein Körper fehlbar war, dass er nicht immer für mich da war und funktionierte. Drei Tage, nachdem ich wegen der Fehlgeburt in der Notaufnahme war, war ich es noch einmal und mir wurde der Blinddarm entfernt.

Ein Jahr zuvor wurde bei einer Freundin ebenfalls der Blinddarm entfernt und ich erinnere mich, wie ich sie belächelte, als sie mir erzählte, sie denke, es hänge mit ihrer unbändigen Wut zusammen, die sie damals empfand. Nicht umsonst gibt es in der Medizin ein Fach, das sich der Psychosomatik widmet. Mein Körper war dem Stress nicht mehr gewachsen.

Manchmal denke ich daran, dass ich tot wäre, würde ich in einer anderen Zeit leben. Dass so viele Schwangere ohne die Fortschritte der Medizin gestorben wären. In Polen müssen alle Schwangerschaften bald registriert werden, und was sich wie eine Dystopie liest, ist eine weitere Einschränkung von reproduktiven Rechten. Ich las einen Artikel darüber, dass in Ecuador eine Frau, weil sie eine Fehlgeburt hatte, mehr als zehn Jahre im Gefängnis saß. Das Abtreibungsgesetz dort ist so harsch, dass den Schwangeren oft nicht geglaubt wird, dass sie eine Fehlgeburt und keine Abtreibung hatten.

Du fragst, ob die Fehlgeburt etwas mit meiner Vorstellung von Weiblichkeit getan hat und ja, sie hat an meinem Perfektionismus gekratzt und daran, dass ich plötzlich andere gebraucht habe, die sich um mich kümmern. Ich glaube, dass viele weiblich sozialisierte Menschen besser sein müssen als cis-Männer, um bestehen zu können. Ich habe diesen Glaubenssatz verinnerlicht: Ich bin nur etwas wert, wenn ich die Beste bin, keine Fehler mache. Dann ist mir ein Fehler passiert, den ich nicht in der Hand hatte, ich verlor die Kontrolle über meinen Körper. Manchmal wäre ich gern weniger weiblich und würde nicht auf jedes Signal meines Körpers achten, wäre gern ein 50-jähriger Mann, der an einem Herzinfarkt stirbt, weil er dachte, das Ziehen im Arm komme vom letzten Tennismatch.

Das Sich-um-andere-Kümmern habe ich auch als weiblichen Teil von mir abgespeichert. Ich will es reflektieren und ich will nicht immer diejenige sein, die sich kümmert, für gute Stimmung sorgt, gleichzeitig bin ich stolz darauf, dass ich eine „gute“ Freundin bin, die für andere da ist. Das passt zu meinem Selbstbild. Als ich mich also nicht mehr um meine Freund*innen kümmern konnte, sondern sie sich um mich, rüttelte das an meiner Weiblichkeit.

Du fragst mich auch nach dem Netzwerk und meines ist eins, in dem ich Leute habe, die ich nach der Fehlgeburt anrufen konnte und sagen konnte: Kommt jetzt vorbei, ich brauche euch, ich will mit euch Buffy auf der Couch schauen und dabei weinen. Ich würde nie die ganze Welt zu mir einladen wie du, weil ich viel zu sehr meine Ruhe brauche und viel zu skeptisch gegenüber vielen Menschen bin. Ich merke, wie die Pandemie und das Kind meine Kapazitäten beschränken, wie Freundschaften dadurch weggefallen sind, aber die wichtigen sind geblieben und auf die kann ich zählen.

Es ist schön, dass du trotz der Entfernung für das Kind deiner besten Freundin Tante bist. Ich habe auch eine enge Freundin, die Tante für mein Kind ist, doch ich merke, wie mir ein Dorf fehlt, obwohl ich eins habe, aber das Dorf ist viel beschäftigt mit dem Kapitalismus und dem eigenen Leben. Seit WWs Geburt bin ich oft traurig, dass meine Herkunftsfamilie so weit weg ist oder ich wenig Kontakt mit ihr habe, denn ich stelle mir vor, dass Großeltern flexibel sind, viel Zeit haben und kurzfristig einspringen könnten, wenn ich eine Betreuung bräuchte. Ich merke, wie diese ganze Organisation der Betreuung mich stresst, die Absprachen, die langen Planungen, von denen du auch schreibst, ohne die das System nicht funktioniert.

Mein Therapeut stellte nach der Fehlgeburt mehrmals die Frage, ob ich dem Embryo schon einen Namen gegeben hätte. Da bin ich bei den Begriffen, nach denen du gefragt hast. Niemals würde ich einem Zellhaufen einen Namen geben, manchmal macht es mich wütend, wenn das, was eigentlich Fötus oder Embryo heißen muss, Baby genannt wird, obwohl ich selbst regelmäßig googeln muss, was der Unterschied zwischen Fötus und Embryo ist.

Manchmal ist das Deutsche so schön konkret: Fehlgeburt. Das beschreibt es genau, anders als das blumige englische miscarriage, die Kutsche, die die falsche Ausfahrt genommen hat. Wie denkst du über die Begriffe und Wörter nach? Du hast es im Zuge der Tante Alles wahrscheinlich mehr getan als ich.

Ich möchte dich fragen, ob du ein Ritual für die Erinnerung an die Fehlgeburt hast, und auch gern nach anderen Tantenritualen fragen.

Möchtest du irgendwann nicht mehr über Fehlgeburten sprechen? Möchtest du es irgendwann abschließen oder gehen das Gespräch und die Gedanken dazu immer weiter? Und wie immer: Nimm die Fragen, die du beantworten möchtest.

Ich bin froh, dass wir unser Gespräch in Briefform weitergeführt haben, es hat mir neue Fragen aufgegeben und etwas wirkt dadurch in mir nach, was ich nicht rational beschreiben kann.

Hab´s gut und liebe Grüße
Bettina

 

Liebe Bettina,

was für eine gute Frage für unsere letzten Briefe, ob ich irgendwann nicht mehr über Fehlgeburten sprechen möchte!

Ich wäre so gerne fertig mit diesem Thema, könnte sagen, ich habe es durchgearbeitet und daraus gelernt, jetzt betrifft es mich nicht mehr.

Aber es betrifft mich weiterhin, wenn auch nur noch selten persönlich. Dieses Thema und all die damit verwobenen Themen, die Fragen danach, wo Leben beginnt und wo es aufhört, wo Familie beginnt und wo sie aufhört, in welchen Bedingungen Leben beginnt und aufhört, wer Kinder zeugen kann und wer es darf – das geht mich alles weiterhin etwas an.

Im Moment sind zwei Menschen in meinem nahen Umfeld schwanger dank künstlicher Befruchtung, ein Paar überlegt zu adoptieren, eine Freundin denkt über Co-Parenting nach, eine ist kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes, eine hat den Kinderwunsch für sich abgehakt, eine ist mittendrin in der Sehnsucht und Entscheidungsphase …

Es geht dabei immer um die Bedingungen, in denen wir alle leben und darum, wie wir füreinander sorgen, und diese Fragen lassen sich kaum endgültig beantworten und nicht final abschütteln.

Ich merke zum Beispiel immer mehr, dass meine eigene Fehlgeburtserfahrung mir nochmal stärker die Augen geöffnet hat dafür, wie relevant nicht nur ein legaler, kostenloser Zugang zu Abtreibungen ist, sondern auch wie relevant eine Kultur darum ist, die Raum macht für alle Erfahrungen.

Ich wurde so sehr in nebulöser Hoffnung auf ein lebendes Kind getränkt – angefangen bei der Gynäkologin und allen in der Notaufnahme, die mir versuchten klar zu machen, dass das noch nicht final ist, dass das immer noch „klappen könnte“, während ich in mir (und in der Kloschüssel) bereits überdeutlich erkennen konnte, dass mein Körper schon anders entschieden hatte, bis hin zu den Berichten, die ich in der Zeit danach las, die beinah alle eine Variante waren von „Ich hatte eine oder mehrere Fehlgeburten, aber inzwischen habe ich eine oder mehrere lebende Kinder, das ist möglich, gib einfach die Hoffnung nicht auf“.

Ich wünsche mir so sehr, für fehlgebärende genauso wie für abtreibende Menschen, dass dieser Blick weiter würde, dass wir akzeptieren, was für eine Person in diesem Moment in ihrem Leben und ihrem Körper wahr ist, und vor allem lernen, sie in dieser Wahrheit radikal und vollständig zu unterstützen.

In diesem Zusammenhang finde ich deine Fragen nach Begriffen wichtig. Die mediale Verwischung eines Embryos als „Baby“ (wie es in vielen Berichten über Fehlgeburten passiert) macht mich extrem wütend – auch wenn ich selber zum Zeitpunkt der Fehlgeburt bereits einen Kosenamen für den Zellhaufen in mir, also für die Möglichkeit eines Kindes, hatte.

Aber das eine ist die persönliche Ebene und das andere eine pauschalisierende, normierende Sicht von außen, die viel zu schnell zu einer Instrumentalisierung von Worten für ein antifeministisches Ziel werden kann. Beides übergeht die medizinische Kategorisierung, eine weitere Ebene, die konkrete und rechtliche Auswirkungen hat (zum Beispiel ab wann es eine Beerdigung gibt oder ab wann der gebärenden Person Mutterschutz zusteht).

Ich glaube, das Schwierige an dem Reden über Fehlgeburten sind genau diese verschiedenen Ebenen darin und wie leicht sie im Reden, Denken, Fühlen durcheinanderwirbeln. Es bleibt für mich: Eine Person benennt in meiner Wunschvorstellung selbst, was in ihrem Körper vorgeht oder eventuell auch nicht mehr vorgeht, sucht und bestimmt selbst die Begriffe, die sie für diese Vorgänge verwendet, und damit die Bedeutung, die sie tragen.

Meine eigene Fehlgeburt war für mich ein Portal, das Bewegung und Bewusstsein gebracht hat, die Entscheidung, keine eigenen Kinder zu bekommen und die Erkenntnis darüber, dass ich nicht binär bin – was beides aber (surprise!) auch wiederum keine statischen Zustände sind, sondern neue Fragen und Ideen und Zweifel mit sich bringen und eine Vertiefung der vorhandenen Fragen.

Spannend finde ich, dass ich durch diese Entscheidung nun viel mehr Raum habe für das, was du als „weibliche Tätigkeiten“ auflistest, für das Kümmern und Sorgen. Nach anderthalb Jahrzehnten von der Fragestellung befreit, ob ich mich nun fortpflanze oder nicht, beschäftige ich mich immer konkreter mit der Frage, was ich für andere tun kann.

(Und merke gleichzeitig, dass dieses Einladen der Welt auch mit meinem Bedürfnis nach Ruhe zusammenprallt und mit meiner Skepsis gegenüber Menschen. Auch das ein Aushandlungsprozess, ein immer wieder Hinfühlen und Abwägen.)

Deinen Wunsch nach flexibel einsetzbaren Großeltern in der Nähe kann ich natürlich total verstehen, vor allem in der Welt, in der wir im Moment leben, und dennoch glaube ich nicht daran, dass eine solche leicht erweiterte Kernfamilie eine Lösung sein kann und muss. Ich würde auch nicht automatisch davon ausgehen wollen, dass Großeltern immer die Verpflichtung und Lust haben, Enkelkinder zu betreuen (und dass das immer im Sinne der Kinder ist). Ich würde Menschen, die bereits einmal Kinder großgezogen haben, lieber die freie Wahl geben, ob sie sich auch ein zweites Mal beteiligen wollen.

Mir ist klar, dass das fancy Wunschdenken einer kinderfreien Person ist und dass das Auflösen dieses Generationenvertrags in unseren kapitalistisch-patriarchalen Strukturen eine große Lücke hinterlässt, in die alle hineinstolpern und in die Mütter besonders hart hinein fallen, und dass die Alternative, neben besseren finanziellen und arbeitsrechtlichen Bedingungen, das berühmte Dorf bleibt, das für dich im Moment nicht greifbar ist – trotzdem wollte ich dem Gedanken Raum geben.

Du fragst danach, ob ich ein Ritual für die Erinnerung an die Fehlgeburt habe. Nein, das habe ich nicht und das wollte ich auch nicht, ihre Auswirkungen sind so klar und lebendig präsent in meinem Leben und in der Tante Alles, dass ich kein Bedürfnis hatte, ihnen eine weitere Form zu geben.

Tantenrituale gibt es aber natürlich haufenweise, und die entstehen und verändern sich in Beziehung, in dem Alltag, den Kinder irgendwie automatisch und fließend mit Ritualen füllen.

Zurzeit bringe ich zu den Besuchen bei meinem Patenkind immer eine Stoffeule mit, die bereits meiner Mutter gehörte. Wenn ich dann nach Hause fahre, macht das Kind der Eule ein Nest aus Kleidern in meinem Koffer und wir legen sie gemeinsam hinein. Beim letzten Besuch sagte das Kind dann: „Ich bin ein bisschen traurig, dass du gehst“ und gleich darauf ganz sachlich: „Aber du kannst ja wieder kommen!“.

Mit herzlicher Umarmung
Ricarda