Other Writers trifft Café Entropy: Cécile Calla im Lass uns Freunde bleiben, Berlin

Foto: Alain Barbero | Blog Café Entropy

Das Café ist mein Fenster zur Welt geworden, mein Erwachsenenspielplatz, eine Flucht aus dem Alltag. Seit ich Mutter bin, seit ich die Kontrolle über die Zeit verloren habe, habe ich dort meine Gewohnheiten. Es ist mein täglicher Sport, mein kleiner Luxus, um zu funktionieren und weiterzumachen. Ich gehe dorthin, um Einsamkeit zu finden und um mich überhaupt zu finden. Dort kann ich meine Stimmung selbst bestimmen, entscheiden, ob ich schweigen, lesen oder die Wand betrachten will. Es ist ein Ventil, ein Vorzimmer, bevor ich nach Hause gehe, um das Abendessen zuzubereiten oder zur Arbeit aufzubrechen. Ein Ort, der nicht gegen die Uhr läuft, an dem man sein Gewand als Sklave der tickenden Uhrzeiger an den Nagel hängen und sich selbst für einen Moment vergessen kann. Wenn ich mich in ein Café setze, finde ich ein wenig dieses Gefühl der unendlichen Zeit wieder, diesen wandernden Geist, eine neue Neugierde. Dann beginnt eine Reise, deren Ziel mir unbekannt ist. Ich beobachte meine Tischnachbarn und -nachbarinnen, lausche ihren Worten und Gefühlen, stelle mir ihr Leben, ihre Qualen und ihre Hoffnungen vor. Für eine halbe oder ganze Stunde verlasse ich mein Leben, um durch das Leben der anderen zu reisen. Nach einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen sehe ich einen anderen Horizont und gehe gestärkt, den Kopf voll mit neuen Ideen.

Welche Bedeutung haben Cafés für dich, seit du Kinder hast?
Es sind Orte, an denen ich die Einsamkeit genießen kann, Zufluchtsorte zum Schreiben, an denen mich das Stimmengewirr einlullt. Dort kann ich meine Gedanken schweifen lassen. In einem Café gelingt es mir oft, einen neuen Zugang zu einem Text oder eine gute Einleitung zu finden.

Wie verändert es deine Café-Zeit, wenn deine Kinder dabei sind?
Als sie noch jung waren, waren meine Aufenthalte mit ihnen im Café sehr kurz und hatten meist einen nützlichen Zweck: Sie sollen ihr Vesper zu sich nehmen oder ein Sandwich essen. Heute sind sie älter und beginnen, diese Orte des Durchgangs und der Begegnung, an denen der Alltag keine Rolle spielt, zu schätzen. Hier können wir uns unterhalten, ein Spiel spielen oder einfach faulenzen.

Eine Kooperation mit Café Entropy – Literatur- und Fotoblog.

Papa

Du hast es nicht zu sagen gelernt. Du kannst es nicht zeigen. Dein Vaterherz ist eine Schnitzeljagd. Keine große Empfangshalle. Niemand an der Gefühlsrezeption, um den richtigen Schlüssel auszuhändigen. Da galt es die Hintertürchen zu finden, die Spuren zu lesen, den Geheimgängen zu folgen, rauf und runter zu sausen im Paternoster. Ich dreh mich im Kreis, stelle die gleichen Frage, bekomme die gleichen Antworten. Der Vater und seine Tochter, die Älteste und ihr Alter, ein unmögliches Paar, ein Fantasie-Duo.
Angeblich wollte ich dich unbedingt heiraten. Laut Mama hatte ich einen ausgeprägten Ödipuskomplex. Du hast nichts davon erwähnt. Hast du es vergessen?
Erinnerungsblitze an diese Wut über alles, was unserer Annäherung im Wege stand, unsere Einsamkeit zu zweit. Die Abwesenheit war deine Vertretung. Und wenn du kamst, vergaßt du die Worte. Ich habe immer noch nicht das Rätsel dieses Schweigens gelöst. Die Wut ist verraucht. Die Liebe ist geblieben.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Übersetzung: Till Roeskens. Französisches Original