Üben, üben, üben

Alles ist neu und auch ein bisschen wie früher, Kindheit, lange Regennachmittage, DDR-Erinnerungen, in der Pubertät dieses viele im Zimmer sitzen. Dabei bin ich alt, so alt, dass zwei sehr neue Menschen bei mir leben. Der eine Mensch ist zwei Jahre neu, der andere zehn Jahre neu, und ich hätte jetzt ungern jemanden zu Hause, der mir sagt, ich würde das mit dem Homeoffice mit Kindern als selbstständige Schriftstellerin in Pandemiezeiten schlecht machen.
Nächstes Jahr werde ich das perfekt machen im Homeoffice mit Kindern als selbstständige Schriftstellerin in Pandemiezeiten.
Während ich übe, mich in dieser Situation einzufinden, üben sie so wahnsinnig viel Neues, wie sie es immer tun. Für das kleine Kind ist alles so neu, dass sie gar nicht üben muss, sondern dass sie üben will und dass sie auch gar nicht übt, sondern einfach spielt.

Wir spielen fünfmal Rausstippsen. Ich stecke die Pinönkel in das Raster, wir drehen das Raster um, die Kleine stippst die Pinönkel von hinten wieder raus.
Nochmal, sagt sie. Ich stecke die Pinönkel in das Raster.
Hellblau, sage ich.
HELLBLAU JUHU, ruft sie.
Orange, sage ich.
GORANSCH, JAAA! ruft sie.
Grün, rot, alles wird freudig begrüßt.
Ich sage Zuhausebleiben, Warten, Homeoffce.
Zuhausebleiben, jaaaa!, ruft sie.
Warten, juhu!
Homefis, jaaaa.
Sie hat dieselbe Begeisterung für alles. Wie macht sie das?
Dann stippst sie Zuhausebleiben, Warten und Homeoffice raus.
Nochmal?, frage ich. Nochmal, jaaaa, sagt sie.
Üben heißt alles fünfmal machen, sechsmal oder siebenmal.
Wenn wir also fünf Jahre Pandemiefrühling hinter uns haben, dann werden wir darin alle ganz toll sein.
Wir werden uns an diese Zeiten gewöhnen, sie werden zum Jahr dazu gehören. Ich muss noch die Wohnung für die Pandemie schmücken, werden wir sagen. Was macht ihr diesmal in der Pandemiezeit?
Wir lackieren den Schrank weiß, räumen den Keller auf und lesen Herr der Ringe.

Aber dieses Jahr ist es noch neu.
Übenübenübenüben, wir tanzen jeden Tag ein bisschen. Oft ist es Kindermusik. Egal. Ich habe jedes Alter im Moment. Corona hat mich aufs Zimmer geschickt. Und komm erst wieder raus, wenn du … ja, was eigentlich?
Ich suche einen Sinn darin, sortiere nach Farben.

Ich bin ein Mensch. Es soll einen Sinn ergeben.
Wer diesen Drang gar nicht unterdrücken kann, denkt sich Verschwörungstheorien aus.
Dafür ist der Virus perfekt. Er ist für jede Deutung zu haben.
Der Virus stoppt die Produktion. Der Virus lenkt die Aufmerksamkeit auf das Sozialsystem der Staaten, auf die Fähigkeit der Regierung, auf die Familie und sich selbst.
Der Virus verbessert die Luft, die Wasserqualität, mindert den Lärm, die Termine.
Er macht alle gleich, nur dass einige sehr viel Klopapier haben, andere keins.
Der Virus macht die Grenze zu.
Es ist ein linksradikaler, rechtsradikaler, esoterischer, bestrafender, kommunistischer, sozialistischer, faschistischer Drecksvirus.
An ihm kann alles hängen, wenn man überall einen Sinn suchen will.
Aber da ist keiner.
Der Virus ist einfach da.

Was will der Virus? Der Virus will nichts. Der Virus ist ein Virus.
Der Virus ist keine Person. Wir sind die Personen.
Der Virus hat nichts vor. Wir sind die, die was vorhatten. Wir haben immer was vor.

Und jetzt?
Üben, übenübenübenüben.
Jaaaa, nochmal.
Hellblau, juhu!

Freizeit heißt für mich …

… Zeit zu haben, um zu arbeiten. Verrückt, oder? Denn ich will arbeiten. Ich will, ich will meine eigenen Gedanken haben.
Mama, ruft es mich aus meinen Gedanken.
Ich reagiere nicht darauf, von weitem gerufen zu werden. Ich frage meine Tochter manchmal, mit wem sie spricht, wenn ich nicht im Zimmer bin. Vielleicht hat sie ja eine unsichtbare Mutter, die immer neben ihr sitzt?
Wenn es so etwas wie Fantasiearmdrücken gäbe, ich würde gegen meine Tochter verlieren. Total.
Natürlich gibt es diese Positiv-Leute, die alles positiv haben wollen, die einem Ratschläge geben, aber selber keine Kinder haben.
Die sagen, ein Kind das ist doch bestimmt ganz inspirierend.
Nein, denke ich, das ist oft auch sehr despirierend.
Erstens: verliere ich ständig im Fantasiearmdrücken und ich will ja nicht ihre Geschichten aufschreiben, sondern meine.
Zweitens: hängen sich die Gebrüder Verantwortung und Alltag an meine Flügel. Ich muss meine Flugzeiten planen. Ich brauche die genaue Adresse der Muse.
Und drittens: fällt mir gerade nicht ein.
Die Tochter kommt rein.
Mama, darf ich deine Bleistifte anstiften? Bist du immer noch nicht fertig mit dem Text?
Doch jetzt, jetzt bin ich fertig.
Dann können wir ja spielen, dass ich eine Krankenhausfledermaus bin und du bist die Krankenschwester.
Ja, okay, können wir machen.