An die Last II

Streptin, 18.09.2020

Guten Morgen, Last,

immer noch krank. Ich klicke mich durch Wikipedia und Oprah.com und lese die beeindruckenden Biografien von Musikerinnen wie Aretha Franklin, Tina Turner oder Mary J. Blige. Staune, was sie geschafft haben. Wie sie stoisch an ihrer Passion festgehalten haben. Sich nicht abbringen ließen, vom Musik machen und vom Veröffentlichen. Wie sie vier Söhne geboren und groß gezogen haben, sich von demütigenden Männern befreit und sich neu verliebt haben.
Ob sie auch manchmal im Halbdunkel saßen und sich fragten, ob sie jetzt mal das Fotobuch anfangen für das eine oder andere Kind, weil sie sonst den Überblick über die Kinderjahre verlieren, wenn sie dies noch länger aufschieben? Oder was sie als nächstes bei ebay-Kleinanzeigen reinstellen, damit die Wohnung wieder ein bisschen leerer wird? Woher nahmen sie die Fähigkeit sich zu fokussieren, ohne Menschen zu verprellen? Oder haben sie? Ist das vielleicht gar nicht so schlimm? Nicht immer alles und alle mitzudenken? Auch mal arrogant oder ignorant zu wirken? Unsicher zu sein?
Jetzt bin ich schon länger als 40 Jahre auf dieser Welt und immer noch nicht klar. Hadere mit mir und den Menschen. Ja, ich lerne immer weiter dazu und verlerne bewusst Dinge, die mir nicht gut tun, und bin trotzdem gefühlt nicht weiser. Immer wieder verzettele ich mich, will zu viel gleichzeitig machen, finde alles interessant und fange dies und das an, mache es dann aber nicht zu Ende. Naja, manches schon. Oder ich bleibe wenigstens dran. Vieles verläuft sich aber im Sande. Oder ist schlichtweg zu anstrengend.
Was ist denn das für eine Luxus-Misere, in der ich mich da befinde? Lieber Schnauze halten? Ist doch alles ganz normal? Mit Tina Turner will man doch nicht tauschen. Diese Entbehrungen. Häusliche Gewalt und wer weiß, was noch alles. Oder Aretha. Hat mit 12 ihren ersten Sohn geboren. Mit 14 den zweiten. Was hat das wohl mit ihr gemacht?
Ich glaube, sie waren tapfer. Ich bin es nicht so richtig.
Du, Last, bist jedenfalls immer noch da.

Tschüss
Lena

An die Last

Streptin, 17.09.2020

Hallo Last,

ich weiß jetzt, dass Du neuerdings einen Namen hast: mental load. Und dass Du es bist, die mich krank gemacht hat. Nicht ich, sondern Du bist Schuld. Ich habe eine chronische Sinusitis, weil ich nicht nein sagen kann. Wegen Dir. Die Selbstdiagnose liegt klar auf der Hand. Ich kann sie genau sehen. Aber ich kann nicht erkennen, an welcher Stelle ich das Knäuel auflösen soll.
Nach dem Lockdown, der sich erst einmal befreiend anfühlte, weil nach und nach alle Verabredungen und Termine abgesagt wurden, türmen sich die alten, jetzt nachzuholenden und die neuen Termine über mir auf. Wie eine Ozeanwelle. Auf ihrem Peak schwimmen aber nicht verrottender Müll und Plastikteile, sondern die Termine. Sie verharren für eine Sekunde über mir, bilden einen Schatten, in dem ich stehe. Dann stürzen sie auf mich ein.
Alles ist irgendwie wichtig. Keiner der Termine ist nun aufschiebbar. Alles muss gemacht werden: sich getroffen, verabredet, besprochen, die Ausstellung aufgebaut, die Workshops geplant, das Kind zum Schwimmunterricht gebracht, Geburtstagsgeschenke ausgesucht, das Bad geputzt, Zuständigkeiten verteilt. Doch jetzt liege ich seit Tagen auf dem Sofa herum, weil ich mich nicht anstrengen darf, hat die Ärztin befohlen. Die Wohnung ist unordentlich. Bett nicht gemacht. Tisch nicht abgeräumt. Berge schmutzigen Geschirrs, trotz Geschirrspüler. Wenigstens die Waschmaschine wäscht.
Ich habe kürzlich Das Loch von Simone Hirth gelesen. Sie hatte die Idee, Briefe zu schreiben. An Leute, aber auch an abstrakte Dinge. Um sich ihrer Situation bewusst zu werden. Etwas mehr Klarheit zu erlangen. Für sich zu reflektieren. Das erschien mir sehr einleuchtend. Ein kluges, berührendes Buch. Eine großartige Idee! Ich habe das hiermit auch versucht. Es fühlt sich ganz gut an.

Danke, kluge Simone.
Nicht danke, blöde Last.

Deine Lena