Liebe Lisa, was …

… soll ich nur tun? Wenn ich morgens aufwache, wieder viel zu lange geschlafen habe, da mein Kind mich neuerdings am Morgen gar nicht mehr aufweckt, was es doch bis vor Kurzem immer getan hat, hatte sich doch genau vors Kopfende meines Bettes gestellt, genau vor mein Gesicht und losgeredet, mit lauter, klarer Stimme, ein Gespräch wieder aufgenommen, das wir vielleicht vor zwei Wochen geführt hatten und ich schon völlig vergessen hatte, bei ihm war es plötzlich wieder da, urplötzlich: „Hammerhaie sind gar nicht meine Lieblingshaie.“ Wenn ich dann endlich aufwache, ruckartig aufspringe, weiß ich schon, dass wir es auch heute wieder nicht pünktlich zum Morgenkreis schaffen werden, spüre schon den vorwurfsvollen Blick Claudias, die ja ab sieben auf der Matte steht – wie oft hat sie mir gesagt, dass es doch nicht zu viel verlangt sei, die Kinder spätestens bis halb zehn zu bringen; ich fühle mich so mickrig klein unter diesem Blick der mit allen Wassern gewaschenen Erzieherin. Mein Kind kommt nicht mehr! Ich laufe in sein Zimmer, um zu sehen, ob ihm etwas passiert ist, ob es überhaupt noch da ist. Da sitzt er dann, mein Söhnchen, kniet mit gebeugten Rücken über seinem Legokatalog oder fummelt an seinen Figuren herum. Wenn er endlich zu mir aufblickt, sehe ich schon, wie durchgefroren er ist, in seinem Schlafanzug. Guck mal, ruft er mir zu, schaut mich mit weitaufgerissenen Augen an, die Lippen blau, die Finger zittrig, und denkt allen Ernstes, dass ich mich jetzt zu ihm setze, mit ihm seinen Katalog durchblättere und mir im Geiste notiere, was er alles haben will, den Tempel des Unsinns, Coles Powerbohrer. Warum ziehst du dir denn nichts an, rufe ich entsetzt. Mir ist nicht kalt, antwortet er und beginnt jetzt hektisch dem Wachturm eine Fahnenstange aufzusetzen, hektisch, weil er natürlich weiß, dass er jetzt für ein paar Stunden Abschied wird nehmen müssen. Es ist wirklich verflixt, liebe Lisa, der kleine Kopf ist dieser Welt so wehrlos ausgeliefert, von allen Seiten schallt es auf ihn ein: LEGO. Dieser Konzern hat wirklich ein perfides, lückenloses System erschaffen. Seine Figuren bevölkern Hörspiele, Comics, Fernsehserien und Kinofilme. Wenn mein Kind nicht gerade Lego spielt, dann hört es Lego oder schaut Lego-Fernsehen oder lässt sich von mir Lego-Comics vorlesen, oder er lässt alles das links liegen, um über seinem Katalog von dem zu träumen, was er noch nicht hat. Aber du hast doch das und das und das, sage ich, doch er antwortet stur und unbelehrbar: Ich brauche es aber doch. Wofür denn, frage ich. Weil es ultrageil ist, antwortet er und ist so naiv und herzerfüllt begeistert vom Drachenschwert oder dem Eisenbaron. Als ich einmal seine unablässige Legobettelei wirklich nicht mehr ertragen konnte, habe ich ihm vorgeschlagen, dass er seine Sparkatze plündert und wir losgehen, damit er sich selbst etwas kauft; er wusste ja noch nicht einmal, dass er eigenes Geld hat. Es wurde wirklich ein schöner Ausflug, er war hochmotiviert, zog sich ohne Aufforderung an, wartete auf mich an der Wohnungstür, suchte sich dann im Kaufhof sehr geduldig ein kleines Paket aus, einen japanischen Spielautomaten, von dem ich schon wusste, dass er sich zum Spielen überhaupt nicht eignen würde. Dann liefen wir zur Kasse, stellten uns am Ende der Schlange an, mein Söhnchen wartete vor mir, in diesem schrecklichen Licht, das alle Kaufhäuser durchstrahlt, in der linken hielt er den Kasten, in der rechten einen Zehn-Euro-Schein. Ich blickte auf seinen Kopf, spürte seine Vorfreude, die ganze Aufregung, in die ihn dieses kleine Kauf-Abenteuer versetzte, und da tat er mir plötzlich so leid, mein kluges, liebes Kindchen, wie es da so völlig verblendet stand, in der Reihe der Erwachsenen, die genauso ernsthaft diesen ganzen Plunder an die Kassen schleppten. Er tat mir so leid, Lisa, aber was hätte ich denn tun sollen, was denn nur?