Eine Sekunde

Mein Sohn ist jetzt vier, viereinhalb, fast fünf, und es ist nicht lange her, dass er das erste Freundschaftsbuch mit nach Hause brachte. Wo befindet sich Deine Burg? Was ist Deine Lieblingsfarbe? Das wünsche ich Dir …! Natürlich habe ich mich mit ihm an den Wohnzimmertisch gesetzt und die Fragen beantwortet, die ich ja auch einmal mit … – nein, mich hat damals niemand unterstützt. Das lag nicht an mangelnder Wertschätzung meiner Eltern, nein, Freundschaftsbücher waren ja gerade eine der ersten Möglichkeiten, den zart sich entwickelnden eigenen Charakter in den eigenen Worten aufzuschreiben und auszudrücken. Doch erst als ich meinen Sohn nach seinem Lieblingsessen fragte, wurde mir das Offensichtliche gewahr: Mein Sohn ist jetzt vier, viereinhalb, fast fünf, und natürlich kann er weder lesen noch schreiben! Erst jetzt fielen mir die Handschriften als Handschriften der Eltern auf, als Schreibweisen, die absolut nichts über das Kind aussagten. Unter den kulinarischen Vorlieben waren Obst und Gemüse auffällig oft nachträglich hinzuaddiert worden. Immer zählten die Geschwister zu den besten Freunden. Und unter den angegebenen Mobilfunknummern würde sich nie und nimmer ein Kinderstimme melden.
Auf einer Seite hatte eine Mutter Wörter mit dem Bleistift vorgeschrieben, damit sie das Kind mit einem Filzstift nachziehen konnte – und irgendwie erschien mir diese Form der Fürsorge sehr schön und sehr schrecklich zugleich. Dass die Kinder die Eltern ihre persönlichen Vorlieben niederschreiben lassen, kann man als einen großen Vertrauensbeweis ansehen. Aber wäre es nicht ehrlicher, diese Freundschaftsverzeichnisse umzubenennen? Und zuzugeben, dass es sich dabei eher um Bücher handelt, mit denen sich Eltern gegenseitig ihre Wunschkinder zeigen?
Mein Sohn ist fast fünf, viereinhalb, er ist vier Jahre alt. Er hat schon drei dieser Bücher ausgefüllt, die ersten zwei Buchstaben seines Vornamens kann er schon alleine schreiben. Und zwischen bestem Freund und größtem Feind liegt bei ihm manchmal nur eine Sekunde.