Milch

Gerade bin ich soweit, wieder einzuschlafen, da richtet sich Malik auf und ruft: „Milch!“ Sein Ruf steht im Schlafzimmer wie etwas Physisches, eine Säule, er hallt lange nach, und ich weiß, was das bedeutet. Manchmal, selten, bleibt es bei diesem einen Ausruf, dann kippt er zurück zu einem von uns und schläft weiter, doch heute kommt der zweite Ruf, energischer, und dann, als Levke und ich uns nicht rühren, der dritte, der keine Nicht-Reaktion mehr duldet: „Mein Milch!“ Vor einigen Wochen haben wir ihm die nächtliche Milch abgewöhnt, denn er hatte sich so an diese Mahlzeiten gewöhnt, dass er jede Nacht mehrmals nach einer Milch verlangte. Die Hoffnung, ihn damit zu beruhigen, erwies sich als Trugschluss. Der Forderung nachzugeben hieß nicht, sie zu befriedigen, sondern sie weiter anzustacheln. Er rief dann: „Mehr Milch“, und wenn er damit fertig war, rief er wieder: „Mehr Milch“ oder: „Noch ein Milch“, wie die Fischersfrau, die ihren Mann immer wieder hinaus zum Butt schickt, weil sie den Hals nicht vollkriegen kann. Immer, wenn wir ihm die Milch verweigerten, bekam er einen Wutanfall. Die Wut kommt, mit oder ohne Milch, es ist eine Wut, die nicht durch Milch zu stillen ist, es ist der zunehmend verzweifelte Versuch, etwas, das sich in ihm aufgetan hat, ein Abgrund, eine Angst, mit Milch zu füllen, es ist eine Wut darüber, nicht mehr durch das Saugen an der Brust oder der Flasche in den entgrenzten Mutterraum fallen zu können, es ist eine Wut über einen bevorstehenden Schritt, den er nicht gehen will. Wir sehen es, wir leiden mit ihm und können ihn doch nicht erlösen. Wir müssen dem Maßlosen Einhalt gebieten.
Levke redet leise auf ihn ein, Morgen gibt es wieder eine Milch, morgen früh. Er hört dann manchmal auf zu weinen und hört ihr zu, doch sobald er die Bedeutung dessen, was sie sagt, versteht, denn er weiß mittlerweile, was morgen heißt, nämlich nicht jetzt, setzt das Wüten nur umso heftiger ein, es hebt an wie ein Sturm und bricht aus ihm heraus und es bildet einen surrealen Kontrast zu der vollkommenen ländlichen Stille um uns herum. In städtischen Nächten gehörte es dazu, dass im Hinterhof immer irgendein Kind weinte, und ich wachte auf und dachte, Mensch, jetzt beruhigt es halt und nehmt es in den Arm, immer mit einer latenten Haltung des Vorwurfs, als würden sie das Kind absichtlich schreien lassen. Wie naiv ich war. Welch eine Stimmgewalt ein solch kleiner Körper erzeugen kann. Es ist tatsächlich eine Form von stimmlicher Gewalt, gegen die man machtlos ist. Er brüllt seine Frustration hinaus in den leeren Raum. Zehn, zwanzig Minuten, in denen er sich nicht beruhigen oder berühren lässt, die man nur übersteht, indem man sich die Decke über die Ohren zieht und abwartet. Er wird dann ganz eins mit seiner Wut, wie er überhaupt ganz in Emotionen lebt. Wenn er sich freut, freut er sich ganz, wenn er lacht, lacht er mit dem ganzen Gesicht, wenn er weint, bebt sein ganzer Körper, und wenn er schreit, schreit er aus Leibeskräften. Nichts wird relativiert. Alles was er fühlt, fühlt er ganz.

Auszug aus einem in Arbeit befindlichen Roman