Was macht Elternschaft zu einem literarisch interessanten Thema?
Moritz Malsch: Eltern sind quantitativ und qualitativ eine gesellschaftlich relevante Gruppe. Mit unseren Elternentscheidungen prägen wir im Guten wie im Schlechten Menschen, die zum Teil das 22. Jahrhundert erleben werden. Und: Wir sind viele! Immer noch. Jede gesellschaftlich relevante Gruppe ist auch literarisch relevant, wenn man voraussetzt, dass in Literatur Gesellschaft verhandelt wird. Nebenbemerkung: Was Elternschaft für mich zu einer interessanten Erfahrung gemacht hat, ist das Hundertprozentige daran. Das Baby duldet keinen Aufschub seiner Bedürfnisse, egal ob nachts um 3 oder während einer Videokonferenz mit der Bundeskanzlerin. In einer ultravernetzten Multitasking-Welt ist das eine unerhörte Erfahrung. Aber auch eine dezidiert unliterarische. Am Wickeltisch stehend, habe ich noch nie über Literatur nachgedacht.
Wieso beschäftigen sich derzeit so viele Neuerscheinungen mit Mutterschaft? Und wieso kommt Vaterschaft als Thema seltener vor, oder ist das gar nicht so?
Moritz Malsch: Frauen haben es seit Jahrzehnten zu recht aktiv in die Hand genommen, ihre Rollen neu zu definieren. Zwar herrscht noch lange keine Gender-Gerechtigkeit, aber wenigstens reden wir über das Problem. Eine Neudefinition der Frauenrollen bedingt aber zwangsläufig auch eine Neudefinition der Männerrollen. Und Männer haben sich demgegenüber, wo nicht ablehnend, doch eher abwartend, passiv und verunsichert gezeigt. Ich bin überzeugt, dass es inzwischen genügend „anwesende“ Väter gibt, aber sie sind (noch) nicht wirklich gesellschaftlich sichtbar. Insofern wäre Vaterschaft literarisch vielleicht sogar das interessantere Thema? Mich hat übrigens noch nie jemand gefragt, wie ich Beruf und Familie unter einen Hut kriege. Danke, dass Ihr es in gewisser Weise getan habt!
Kann der Literaturbetrieb familienfreundlicher gestaltet werden, und wenn ja wie?
Moritz Malsch: Ob der Literaturbetrieb für mich familienfreundlich ist oder nicht, hängt von meiner Position darin ab. Let’s talk about class. Im Literaturbereich arbeiten sehr viele freiberuflich, und das aus einem oft beengten Zuhause. Die Einkommenslage ist prekär. Wie soll das mit Familie gehen? Als ich noch verhältnismäßig erfolgreich als freier Lektor arbeitete, hatte ich immer genug Aufträge und konnte meinen Lebensunterhalt bestreiten, aber für eine Familie oder den Erwerb ausreichender Rentenpunkte hätte es nicht gereicht. Es ist jedenfalls keine Lösung, bei Veranstaltungen Kinderbetreuung oder bei Residenzen eine größere Wohnung zur Verfügung zu stellen. Als wenn Kinder so eine Art Verschiebemasse wären. Autor*innen und Übersetzer*innen müssen genügend verdienen, dann organisieren sie sich ihre*n Babysitter*in schon selbst.
„Wir hatten schon Stadtschreiber*innen, die im Garten ein Zelt für die Familie aufgestellt haben“, antwortete uns eine Kulturbehörde, als wir uns erkundigten, ob man zum Aufenthaltsstipendium mit Familie anreisen kann. Habt Ihr ein Zelt für uns?
Moritz Malsch: Ich empfehle als Zelt das vom Netzwerk freie Literaturszene Berlin vorgeschlagene Modell des Tandem-Stipendiums: Fünf Jahre sozialversicherungspflichtig im Literaturbereich beschäftigt, die Hälfte des Tages freigestellt fürs Schreiben. Dann ist diese Art von prekärem Stipendientourismus nicht mehr nötig.
Moritz Malsch, Mitgründer und seit 2016 auch Mitarbeiter des Literaturhauses Lettrétage, Vorsitzender des Netzwerks freie Literaturszene Berlin e. V. und der Anna-Seghers-Stiftung, Mitinitiator des Branchentreffs Literatur im Projekt „schreiben&leben“, der vom 18. bis 20.6.2021 unter dem Motto „Vor-care-ungen – Freiberuflich mit Zukunft“ stattfindet. Vater von zwei Kindern der Jahrgänge 2015 und 2020.