Lieber Vater

aber so nenne ich dich ja nie, ich nenne dich allerhöchstens einmal im Jahr Papa; um dich zu ärgern, nenne ich dich Vati oder auch Vatti. Papi habe ich nie gesagt, Dad nicht, Daddy nicht, Baba nicht, Paps erst recht nicht. Inzwischen nenne ich dich, wiederum
um dich zu ärgern, oder eher zu necken, denn da stimmt ja das
Sprichwort: Opi. Oder an kalten Winternächten, wenn du auf dem Sofa liegst, dann nenne ich dich Väterchen. Da springst du dann auf und fragst mich bohrend, was ich denn heute schon geleistet hätte? Eigentlich nenne ich dich immer beim Namen. Ich habe keinen Vater, ich habe einen Thomas, einen Bernd, einen Frank, einen Christian, einen Albrecht, einen Franz, einen Clemens. Oder wie du eben heißt. Das wären zumindest schon mal die wahrscheinlichen Namen der Väter von einem wie mir. Cher Père, könnte ich auch sagen. Why not? Zehn Jahre lang hast du versucht, französisch zu lernen, dann zehn Jahre lang englisch. Sprechen tust du beides nach wie vor nicht. Aber kennen tust du die Sprachen. Manchmal nenne ich dich auch: Alter! und klapse dir dabei kollegial auf die Schulter. „Ich hatte keinen richtigen Vater“, sagst du, „und deshalb hast du auch keinen richtigen Vater, aber immerhin hast du mich.“ Cher père, von einem Heiligen hast du deinen Namen und bist deshalb noch lange kein Heiliger geworden. Wenn du auf dem Sofa liegst, sehe ich mich, und die Angst vor der Zukunft löst sich in Luft auf.

Ein Beitrag aus der Reihe Lieber Vater – Texte über ein prägendes Verhältnis. Französische Übersetzung