Morgens, zwischen vier und halb sechs

Ich bin besorgt, dass meine Kinder sich in der Schule anstecken, dass sie krank werden, Long-Covid entwickeln, das erste Kind werden, dass auch in Deutschland die Gefährlichkeit der Krankheit für kleine Kinder beweist. Ich bin gestresst und überfordert, weil ich parallel arbeiten soll wie immer, weil ich zusehe, wie die Große wieder Zugänge und Kurseinladungen zu Lernplattformen auf ihrem Tablett einrichtet, weil die Mittlere wieder jeden Tag all ihre Schulbücher hin- und herträgt, weil niemand weiß, ob sie morgen wieder in die Schule gehen kann. Ich bin besorgt, weil die Schutzmaßnahmen in der Schule quasi nicht vorhanden sind, viele Kinder sich effektiv gar nicht testen, auch wenn es auf ihren Zetteln steht, weil einige Kinder ganz sicher ungeimpfte Eltern haben, weil in den Klassenräumen bei einem Grad statt Luftfiltern offene Fenster die Viren vertreiben sollen, weil im Hort alle Kinder durcheinanderrennen, ganz gleich, was für die Schule gilt. Ich bin gestresst und überfordert, weil ich Igel ausmale, Tu-Wörter aufzähle, Rechenmauern kontrolliere, Französischvokabeln abfrage, Verben dekliniere, Zirkel repariere, Äpfel schneide und auch noch eine der Glücklichen sein soll, die ja immerhin parallel von zu Hause aus arbeiten kann und sich nicht krankmelden muss. Wie muss es erst dem Pflegepersonal gehen? Den Erzieher*innen, Lehrer*innen, die zum Beispiel meine Kinder betreuen und nicht nur irgendeine homogene Masse, sondern ebenso wie ich denkende, fühlende, besorgte und sicher auch ängstliche Menschen sind? Wie muss es all den Menschen gehen, die nicht zu Hause bleiben können, weil sie keine Kinderkrankentage, Urlaubstage oder sonstiges mehr haben, weil sie sich nicht trauen, sich krankschreiben zu lassen aus Angst, den Job zu verlieren? Ich sage mir: Denk an diese Menschen, und zwinge mich, nicht zu verzweifeln, immerhin ist die Welt voller Menschen, denen es noch schlechter geht, nicht wahr. Also weiter funktionieren und sich selbst dabei mehr und mehr vergessen, bis auf morgens zwischen vier und halb sechs, da kannst du alles tun! Ich bin müde.
Manchmal schalte ich statt des TVs lieber das Smartphone ein und geh zu Twitter, Facebook, Instagram, kurz, in die Hölle. Ich like das Foto des männlichen Autoren, der grad von einem Aufenthaltsstipendium zum nächsten flaniert, sehe zu, wie er seinen Erfolg feiert, ständig Zusagen zu bekommen, ohne zu reflektieren, dass die Mutter-Autorinnen sich aktuell einfach auf nichts zu bewerben brauchen. Wozu? Wer hat Kraft, die Foren durchzugehen, wer hat Energie, eine Bewerbung zu schreiben und sowieso, Kinder mitnehmen? Nein, danke, wir brauchen hier unsere Working-Ruhe. Also freie Bahn für die, deren Bahn schon immer viel freier gewesen ist. Manche ziehen ihre beruflichen Runden, andere ziehen an den unter dem Sofa verklemmten Socken.

Auszug aus einem längeren Text