Take Care: Andrea Karimé & Barbara Peveling (III)

Habibi, Andrea!

Vielleicht, liebe Andrea, ist es der Frieden mit sich selbst, den wir erst einmal schließen müssen.
Wo anfangen und wie?
Das habe ich mich die letzten Tage gefragt, nachdem ich Deine Zeilen gelesen haben.
Wenn ich auf diesen Krieg in der Ukraine blicke, dann muss ich mir selbst eingestehen, dass ich nichts von dieser Welt verstanden habe. Vor sieben Jahren, als aus Syrien zu uns eine Welle grausamer Bilder flutete, habe ich einen Text auf Social Media geschrieben „Grenzer zum Grenzen ficken“. Der Text hat dann den Wettbewerb von dem Literaturmagazin „Fettliebe“ gewonnen. Wenn ich mir die Ränder der Welt so anschaue, so denke ich, es ist doch das Beste, was einem passieren kann, wenn man für und über genau diese Ränder schreibt. Oder, was meinst Du?
Aber ja, der Krieg ist jetzt viel näher und was ich mit meinem Hinweis auf Syrien auch sagen wollte, ist, dass mir erst kürzlich bewusst wurde, dass die Menschen, die in diesen großen Wellen übers Mittelmeer kommen, vor den Bomben derselben Macht flohen wie die, die heute auch die Ukraine bedroht.
„Bis dahin musste die Angst bezwungen werden“, schreibst Du in Deinem Essay „Granatapfellicht. Scham Rasse Geschlecht. Das Goldene Kamel.“ Wenn sie mich übermannt, stelle ich mir ein Moor vor, durch das ich langsam Schritt für Schritt gehe.
Es ist normal, hat mir meine Mutter heute am Telefon gesagt, dass man mit den Jahren dünnhäutiger wird.
Und ich frage mich, was wird aus mir mit den Jahren? Ein trockenes Blatt im Wind, das dem nächsten dahergekommenen Windstoß erliegen wird?
Ich kann es mir nicht leisten, davon zu flattern, ich muss noch zwei kleine Menschen über eine Zielgerade lotsen, diese Linie, die in mir in den Wirren der aktuellen Weltlage immer mehr in die Ferne zu rücken und sogar zu verschwimmen scheint.
Warum also nicht lieber zurückblicken?
Kennst Du den Mythos von Europa, Tochter des Agenor, dem phönizischen König?
Sie soll am Strand von Sidon gespielt haben, als Zeus sie in der Gestalt eines Stiers entführte und nach Kreta verschleppte, um ihr drei Söhne zu machen. Aphrodite hat dann den fremden Erdteil nach Europa benannt, einer aus dem Libanon entführte Tochter.
Wann also, liebe Andrea, reisen wir zusammen in den Libanon? Was wäre wohl, denke ich manchmal, das erste, was wir dort machen? Irgendwo in einem Restaurant sitzen, aufs Meer schauen und die vielen Vorspeisen genießen?
Lachen, auf jeden Fall, und das sehr viel.
Die durch den Ukrainekrieg zu erwartende weltweite Hungersnot, sagt man, würde den Libanon besonders hart treffen, und die Inflation dort beträgt heute schon 144 % …
Andrea, ach, wenn Du Schamuta schreibst, kennst Du sicher auch Ychsachtak, was für ein Leben!

 

Liebe Barbara,

was für ein Leben, ysachtak, schreibst du. Die Kriegsangst ist groß. Die Seuchenangst, die Klimaangst. Die Rassismusangst.
Und mein Einflussradius ist klein. Dennoch muss ich ihn nutzen, in diesen wilden Zeiten, sagt mein Freund Jeff.
Meine Kusine ist frisch aus Libanon nach Deutschland gekommen. Sie hat eine deutsche Mutter und deshalb kann sie es sich aussuchen, wo sie lebt. Sie berichtete Schreckliches vom Libanon, ja, die Inflation erschüttert das Land aufs Neue. Niemals ist Ruhe im Libanon. Deshalb war ich ja auch so lange nicht mehr da.
Vielleicht würde uns das Lachen im Café in Beirut im Halse steckenbleiben? Und trotzdem wäre mir eine gemeinsame Reise in den Libanon, und wenn auch nur kurz, eine lichte Vorstellung.
Lachen und die Ränder be-schreiben. Genau so sehe ich das auch.
Für die Ränder schreiben. Das ist mein Einfluss. Aber machen wir das als Frauen nicht sowieso automatisch? Als Frau (als Deutschlibanesin und muslim-related, (nicht muslimisch, aber was spielt das schon für eine Rolle)) (nie Mutter geworden, mein Kind ist vor der Geburt gestorben) bin ich ja sowieso Teil des Randes. Und du? Was meinst du?
Ja, am Rand ist die Haut dünn. Aber vielleicht ist das nicht schlecht. Vielleicht ist die Dünnhäutigkeit genau das, was die Menschheit braucht? Und deine Kinder vielleicht insbesondere? Denn Dünnhäutigkeit heißt auch Berührbarkeit. Davon gibt es zu wenig auf der Welt, meine ich, auch wenn Dünnhäutigkeit unbequem ist, weil wir immer Umstände schaffen müssen, in denen die Haut nicht reißt.
Und diese Umstände heißen: Verbundenheit.
(Und das ist in unserem Einflussradius.)
„Ich glaube nicht, dass unsere Unterschiede keine Rolle spielen oder wir alle gleich sind. Mir ist klar, dass wir in verschiedenen sozialen, historischen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen stehen und sich diese Unterschiede sehr auf unser Leben auswirken. Ich denke aber auch, dass es unter der Ebene der direkt gelebten überlieferten und über Generationen hinweg weitergereichten Erfahrungen – unterhalb unserer einzigartigen Kulturen und Identitäten – eine Gemeinsamkeit gibt, und ich glaube, dass wir über Kreativität Zugang dazu finden können!“, schreibt die kluge Kae Tempest in ihrem Essay „Verbundensein“.
Auch deshalb ist dieser Briefwechsel so eine Freude, so eine Wohltat und auch vielleicht ein Raum für das Dünnhäutige, so wie es jede Freundschaft sein sollte.
(Verbundensein ist ein wirksames Antidot gegen Angst.)
Und vielleicht ist es deshalb so ein großes Glück für mich gewesen, dass mich die Frauen von dem Projekt „Ismie mie“ letzte Woche zu den Ramadan-Portraits eingeladen haben. Jetzt bin ich als Nichtmuslima ein Teil davon und fühle mich sehr geehrt.
Und danke danke für den Hinweis, dass Europa ein Kind des Libanon ist, wie ich!

Habibtihugs und Salaamat,
Andrea

Postskriptum: Ich gendere, habibti, gern zum Augenzwinkern aller, die Arabisch verstehen, also habib*ti. Wie aber geht es dir damit? Und hast du absichtlich die männliche Form benutzt, als Hinweis? Wenn ja, auf was?